Justinus Kerner
Biographie
Von Kurt Seeber
(ca. 400 Zeilen à 60 Anschläge)
Poet und Romantiker
Arzt und Erforscher der Nachtseite der Natur
Vorliebe für Kunst und Heimatgeschichte
Zauber der Persönlichkeit
Seine Kindheit und Jugend hat Justinus Kerner in unübertrefflicher Lebendigkeit als Sechzigjähriger selbst geschildert. Sein "Bilderbuch aus meiner Knabenzeit" gilt als sein bestes Prosawerk. Der älteste nachweisbare Vorfahre der Familie stammt - wie neuere Forschungen ergaben - aus Flatschach, heute Ortsteil der Gemeinde Unternberg im Lungau, Land Salzburg, Österreich. Zwei seiner Enkel hatten bereits bedeutende Ämter in Württemberg: Michael (gest. 1576) - Rektor der Lateinschule in Schwäbisch Hall, Balthasar (gest. 16o9) - Prediger in Ulrn. Justinus stammt von Michael ab. Dessen Sohn war Vogt in Heidenheirn, dann folgen ein Dekan in Güglingen, ein Apotheker und Bürgermeister in Markgröningen, ein Bürgermeister in Göppingen, ein Vogt und Rat in Blaubeuren und Calw. Der Großvater war wie der Vater Oberamtmann (Landrat) in Ludwigsburg. Dort wurde Justinus am 18. September 1786 geboren und erlebte die Stadt in ihrer Entwicklung von der glänzenden Residenz des Herzogs Carl Eugen bis zum verödeten "Grasburg". Als der Knabe neun Jahre alt war, wurde der Vater nach Maulbronn versetzt. In der ländlichen Abgeschiedenheit des alten Klosterbezirkes wurde sein reges Interesse für Pflanzen und Tiere sowie für Kunst und Heimatgeschichte geweckt. Kaum 15 Jahre alt, verlor er den Vater und damit die Mittel zu weiterem Schulbesuch. Unglücklicherweise hatte die berühmte Karlsschule, wo seine Brüder Karl und Georg ihre Ausbildung erfahren hatten, ihre Tore geschlossen. So steckte die Mutter den Knaben als Kaufmannslehrling in das Kontor der herzoglichen Tuchfabrik, in der gleichzeitig das Irrenhaus und das Zuchthaus untergebracht waren. Justinus mußte Tuchballen in Hüllen von Glanzleinwand einnähen und beschriften und fand keinerlei Befriedigung in dieser Lage. Bei der stumpfsinnigen Arbeit suchte er Ablenkung. Er fing an, Gedichte zu schreiben und die Kranken durch sein Spiel auf der Maultrommel, einer Vorläuferin der Mundharmonika, zu beruhigen und zu unterhalten. Sein ehemaliger Pfarrer und Lehrer Conz, der inzwischen als Professor für alte Sprachen an die Universität Tübingen berufen worden war, brachte dem unglücklichen Kaufmannslehrling die heißersehnte Erlösung. Conz setzte es bei Kerners Mutter durch, daß Justinus studieren durfte. Rasch sammelte sich in Tübingen um ihn ein Kreis gleichgesinnter Freunde, zu denen Ludwig Uhland, Karl August Varnhagen von Ense und später auch Gustav Schwab gehörten. Im "Neuen Bau", wo Justinus wohnte, gaben die Freunde gemeinsam das "Sonntagsblatt für gebildete Stände" heraus, das im Gegensatz zu dem Cottaschen "Morgenblatt für gebildete Stände" die Ideen der Romantik gegen die Männer der sogenannten Aufklärung verfocht, die nur den Verstand gelten lassen wollten. Am 26. April 1807 unternahmen die Freunde zur Feier von Uhlands Geburtstag eine Fahrt auf die Achalm bei Reutlingen. Dabei lernte Kerner seine künftige Gattin, Friederike Ehmann (1786-1854), kennen, die bei Verwandten im Bebenhäuser Klosterhof in Tübingen-Lustnau lebte, da sie als zweijähriges Kind die Mutter und vor zwei Jahren nun auch den Vater (Pfarrer in Ruit, Professor in Denkendorf, zuletzt Stadtpfarrer in Großbottwar) verloren hatte. Marie Kerner schildert die romantische erste Begegnung ihrer Eltern: "Alle waren fröhlich, nur ein junges feines Mädchen in dunkler Kleidung, das mit zu dieser Gesellschaft gehörte, stand allein und sah traurig in die Gegend hinaus. Kerner, der dieses Mädchen noch nie früher gesehen hatte, trat auf sie zu und redete sie mit den Worten Goethes an:
"Wie kommt's, daß du so traurig bist,
Da alles froh erscheint?
Man sieht dir's an den Augen an,
Gewiß, du hast geweint."
Sie antwortete mit dem zweiten Vers
"Und hab ich einsam auch geweint,
So ist's mein eigner Schmerz,
Und Tränen fließen gar so süß,
Erleichtern mir das Herz."
Mit diesen Worten war der Bund der Herzen zwischen Friederike und Justinus geschlossen.
Mit seiner Dissertation über die Funktion der einzelnen Teile des Ohres erwarb Kerner im Dezember 1808 die Doktorwürde und machte anschließend eine Studienreise nach Hamburg, Berlin und Wien, wobei er in Berlin Chamisso und Fouqué, in Wien Friedrich Schlegel und dessen Gattin Dorothea kennenlernte. Auch der damals schon berühmte Musiker Ludwig van Beethoven zählte zu Kerners Wiener Bekannten. Nach der Rückkehr begann seine ärztliche Tätigkeit in Dürrmenz bei Mühlacker, dann in Wildbad, Welzheim, Gaildorf und Weinsberg. Im Januar 1819 zog er in Weinsberg als Oberamtsarzt ein und baute 1822 sein Haus. Als Bauplatz schenkte ihm die Gemeinde an der nordöstlichen Ecke der alten Stadtmauer ein Grundstück, das ehemals zum Stadtgraben gehört hatte. Am Fuße der Weibertreu fand der Dichter die Heimat, die seinem Wesen entsprach. Natur und Kunst, Sage und Geschichte hatte er gewissermaßen vor der Tür. Hier konnte er sich in der Vielseitigkeit entfalten, die bei einer gerechten Würdigung seines Werks und seiner Gestalt beachtet werden muß.
Poet und Romantiker
Kerner hat sich selbst einmal das originelle Prognostikon gestellt:
"Flüchtig leb' ich durchs Gedicht,
Durch des Arztes Kunst nur flüchtig;
Nur wenn man von Geistern spricht,
Denkt man mein noch und schimpft tüchtig."
Dabei hat er zu schwarz gesehen und sich von seiner Neigung zur Schwermut treiben lassen, die ein Erbstück aus der Familie seiner Mutter war. Den Schmerz bezeichnet er als Hauptmotiv seiner Lyrik:
"Poesie ist tiefes Schmerzen
Und es kommt das echte Lied
Einzig aus dem Menschenherzen,
Das ein tiefes Leid durchglüht."
Doch zwischen den düsteren Wolken der Schwermut blitzt immer wieder sein unverkennbarer, oft skurriler oder gar makabrer Humor hindurch. Man kann ihn Ernst Kretschmers Typ des Zyklothymen zuordnen, dessen Gemütslage sich vorwiegend zwischen Heiterkeit und Trauer spannt.
Kein schwäbischer Dichter hat so vollkommen wie er den Geist der Romantik verkörpert. Wir erinnern an seine Vorliebe für alles Volkstümliche, das Volkslied, die Legende, das Märchen, das Wunderbare und Übersinnliche, die Kunst des Mittelalters und die Geschichte der Heimat. Er schrieb seine Gedichte ganz aus dem Erlebnis und Gefühl heraus und hatte keine Lust, an der künstlerischen Form seiner Verse zu feilen. Einige seiner Gedichte sind volkstümliche Lieder geworden, vor allem das schwäbische Heimatlied "Der reichste Fürst", "Wanderlied" und "Der Wanderer in der Sägmühle" (Klingenmühle bei Welzheim). Hugo Wolf vertonte Kerners Verse "Zur Ruh, zur Ruh". Friedrich Silcher widmete dem Dichter seine Komposition von sechs Liedern für Singstimme und Klavier und schrieb ihm: „Innigst geliebter und verehrter Freund! Hiermit bin ich so frei, Ihnen die längst versprochenen Lieder zu überreichen. Nehmen Sie sie in Liebe auf, ich habe sie mit inniger Liebe komponiert. Wie glücklich wäre ich nun, wenn ich das eigentümliche Wesen Ihrer Gedichte, die reinen Naturklänge derselben, das kindliche Herz und die innige Sehnsucht und Liebe, welche daraus atmen, nur einigermaßen in Tönen ausgedrückt haben sollte." Und vor allem erinnern wir an Robert Schumanns Lieder, unter denen sich nicht weniger als 14 Kernergedichte befinden. Das bekannteste davon ist "Wohlauf noch getrunken den funkelnden Wein". Kerner verfaßte es, wie er im März 1809 an Uhland mitteilte, nach bestandenem Doktorexamen auf dem Heimweg von Tübingen nach Ludwigsburg und schrieb es in Echterdingen in einem Wirtshaus auf. Eine weitere kostbare Erinnerung an seine Studentenzeit hat er in seinem trefflichen "Tübinger Burschenlied" hinterlassen. Und wem sollten nicht auch heute noch die Verse zu Herzen gehen, welche in schlichter Innigkeit von Freundestreue, Eheglück, Naturverbundenheit, Mitleid und Demut zeugen? Kerners Gedicht "Im Eisenbahnhofe" enthält eine Klage über die Entzauberung der Natur durch die Technik, und die letzte Strophe desselben scheint in fast prophetischem Geiste an unsere Zeit gerichtet zu sein, mit den Worten:
Fahr zu, o Mensch! treib's auf die Spitze,
Vom Dampfschiff bis zum Schiff der Luft;
Flieg mit dem Aar, flieg mit dem Blitze,
Kommst weiter nicht als bis zur Gruft.
Seltenheitswert in der Geschichte der Lyrik haben Gedichte der Gattentreue wie "An Sie im Alter" und "An Sie nach Ihrem Tode". Damit hat er seinem Rickele, die einen Ehrenplatz unter den deutschen Dichterfrauen verdient, ein Denkmal gesetzt. Ihr Sinn für die Wirklichkeit des Alltags, ihre Geduld und Besonnenheit, ihr Verständnis und Einfühlungsvermögen schufen den Ausgleich zu Kerners Sensibilität und überschwenglicher Phantasie. Das Ehe- und Familienglück bewahrte ihn lange Zeit vor einem Verfall in die Schwermut, die sein Leben nach Rickeles Tod beherrschte und deutlich aus seinem Briefwechsel mit Ottilie Wildermuth ersichtlich ist.
Als poetische Frucht von Kerners Bildungsreise erschienen im April 1811 "Die Reiseschatten. Von dem Schattenspieler Luchs". Das Werk steht unter dem Einfluß von Ludwig Tiecks Märchendramen, offenbart aber deutlich Kerners typische Charakterzüge: Herzenswärme, Freundestreue, launige Gesprächigkeit, blühende Phantasie, lyrische Zartheit und Neigung zu Witz, Wortspiel, Satire und Humor. Dieses Hauptwerk der schwäbischen Romantik erlebte vor einigen Jahren eine Neuausgabe ebenso wie "Das Bilderbuch aus meiner Knabenzeit", "Die Seherin von Prevorst" und der Briefwechsel mit Ottilie Wildermuth.
Daß Kerner seinen Humor und die Freude am Grotesken auch im Alter nicht völlig verloren hat, beweisen seine „Klecksographien". Quelle dieser Liebhaberei waren die "Tintensäue", die zuweilen auf die Briefe und Manuskripte des fast erblindeten Dichters fielen. Durch Faltung des Papiers erzeugte er aus den zerdrückten Tintenklecksen wunderliche Gebilde und Teufelsfratzen, wobei er mit ein paar Federstrichen nachhalf. In erläuternden Versen machte er sich selbst über die so entstandenen "Dämonen" lustig. Das von ihm aus Klecksographien zusammengestellte "Hadesbuch" ist in Urschrift im Schiller-Nationalmuseum in Marbach erhalten.
Arzt und Erforscher der Nachtseite der Natur
Bei der Betrachtung von Kerners poetischen Werken ist man leicht geneigt, seine beruflichen Leistungen zu vergessen: 1810 Arzt in Dürrmenz bei Mühlacker und noch im selben Jahr in Wildbad, Anfang 1812 Unteramtsarzt in Welzheim, 1816 Oberamtsarzt in Gaildorf, 1819 im gleichen Amt in Weinsberg. Bis zum 65. Lebensjahr hat Kerner ununterbrochen praktiziert. Ein Altersstar zwang ihn 1851, Amt und Praxis aufzugeben.
Infolge seiner Gemütstiefe ist ihm sein Beruf nicht immer leichtgefallen. Oftmals seufzt er in Briefen und Gedichten über die Unzulänglichkeit ärztlicher Kunst. Der Tod von Patienten, vor allem von Kindern, ging ihm sehr nahe.
Seine medizinischen Schriften sind heute nur noch wenigen bekannt, obwohl sie einstens mehrere Auflagen erlebten. Im Jahre 1811 erschien erstmals Kerners balneologische Schrift "Das Wildbad im Königreich Württemberg". In der 4. Auflage hat er Abhandlungen über Liebenzell, Teinach und Kloster Hirsau beigefügt. Auf Kerners Veranlassung wurde zum ersten Male eine chemische Analyse der Wildbader Thermalquellen durchgeführt. "Die vor 150 Jahren von Kerner als richtig erkannten Wasser- und Gas-Analysen haben auch heute kaum etwas von ihrer Gültigkeit verloren", bemerkt Hans Ulrich Schulz in einer Gedenkschrift zum 100. Todestag des Dichter-Arztes.
Besondere Beachtung verdienen Kerners eingehende Untersuchungen über das Krankheitsbild der bakteriellen Lebensmittelvergiftung. Häufige Fälle von Vergiftung durch geräucherte Würste veranlaßten ihn zu diesen Forschungen. Ihm verdankt die Medizin die erste zusammenfassende Beschreibung des Botulismus, wie man die Krankheit etwa 80 Jahre später nach der Entdeckung des Bazillus botulinus nannte.
Im Jahre 1831 erschien Kerners "Sendschreiben an die Bürger des Oberamts Weinsberg in Betreff der uns drohenden Cholera". Die russische Armee hatte die Seuche nach Polen eingeschleppt. Von dort griff die Epidemie nach Danzig, Berlin, Wien und andere Städte über. In volkstümlich anschaulicher Sprache schildert Kerner das Krankheitsbild und die Ansteckungsgefahren, rät zur Mäßigkeit und endet mit einem Aufruf zur Hygiene "Lüftet! Waschet! Feget!"
Schon als Knabe war Kerner auf ein Heilverfahren aufmerksam geworden, das in seinem Leben besondere Bedeutung gewinnen sollte. Der Heilbronner Arzt Dr. Eberhard Gmelin heilte ihn von einem nervösen Magenleiden durch eine magnetisch-hypnotische Kur. Von diesem Erlebnis tief beeindruckt, kam Justinus von der damals vielbeachteten Lehre von der Heilkraft des "tierischen Magnetismus" nicht mehr los. Franz Anton Mesmer, der Begründer dieser für die Romantik bezeichnenden medizinischen Bewegung, wurde sein Vorbild, und ihm widmete er noch in späteren Jahren eine biographische Abhandlung.
Durch magnetische Kuren und durch sein 1824 erschienenes Buch "Geschichten zweier Somnambulen, nebst einigen Denkwürdigkeiten aus dem Gebiet der magischen Heilkunde und der Psychologie" war er schon weit bekannt, als ihm 1826 die schwerkranke Friederike Hauffe aus Prevorst zur Behandlung ins Haus gebracht wurde. Seine Beobachtungen und Heilversuche an dieser Patientin legte er 1829 in dem Buche "Die Seherin von Prevorst" nieder, das seinen Namen durch eine Übersetzung ins Englische (London 1845) und Französische (Paris 1900) weit über Deutschlands Grenzen hinaus bekannt machte und bis zum heutigen Tage als klassisches Werk des Okkultismus und der Parapsychologie gilt. So nennt man jetzt die Wissenschaft von den Erscheinungen, welche Kerner als die "Nachtseite der Natur" bezeichnete, und die außerhalb des Bereiches der durch den Verstand und die Sinne erfaßbaren Erfahrungswelt liegen. Das Buch von der Seherin von Prevorst berichtet von Geistererscheinungen, Wahr- und Wachträumen und anderen okkulten Phänomenen wie Telepathie und Telekinese, die zur Zeit durch die Fernsehsendung "Psi" und den Fall Uri Geller im Blickfeld der Öffentlichkeit stehen. Vom Tage seines Erscheinens bis zur Gegenwart hat es immer Bewunderer wie auch Spötter und Verächter gefunden. Die letzte Ausgabe erschien 1973 mit einem Vorwort aus der Feder eines erfahrenen Facharztes. Dort lesen wir, daß gerade die moderne Psychologie und Psychopathologie jedem Unvoreingenommenen zeigen, daß Friederike Hauffe weder eine phantastische Schwindlerin noch eine hysterische oder geisteskranke Frau gewesen sein kann, sondern "eine mit paranormalen Eigenschaften hochbegabte, einzigartige mediale Gestalt war, deren Deutung allein einer wissenschaftlichen Parapsychologie zusteht". Wie wir uns auch zu den Ansichten und Methoden des Weinsberger Dichterarztes stellen mögen, so müssen wir ihm doch unsere Bewunderung zollen für die Hingabe, das Einfühlungsvermögen, die Opferbereitschaft und Geduld, die er bei der Betreuung seiner Patienten aufbrachte. Übrigens hat sich Kerners medizinische Begabung offenbar vererbt; denn sein Sohn Theobald, sein Enkel Dr. Georg Kerner, und vor allem die Nachkommen seiner Tochter Emma, Professor Dr. Fritz Mohr in Düsseldorf und Professor Dr. Werner Mohr in Hamburg, zeichneten sich als Ärzte aus.
Vorliebe für Kunst und Heimatgeschichte
Neben Kerners Leistungen als Dichter und Arzt dürfen wir seine Verdienste um die Erhaltung von Kunstwerken und um die Geschichte seiner Heimatstadt Weinsberg nicht außer acht lassen.
Die Begeisterung für die altdeutsche Kunst, wie er sie nannte, das heißt für die Malerei und Baukunst des Mittelalters, teilte er mit fast allen Romantikern. Wo er nur konnte, spürte er alten Kunstdenkmälern nach. Im Laufe seines langen Lebens brachte er eine wertvolle Kunstsammlung zusammen. Außer hervorragenden Glasmalereien und Plastiken enthält sie Gemälde bedeutender Meister wie Zeitblom, Sweerts, Simanowitz und Lenbach. Auch seine Aufsätze über die Kunstwerke der Heerbergskapelle bei Gaildorf und über die Weinsberger Stadtkirche offenbaren seine außergewöhnliche Freude an der bildenden Kunst. Freundschaftliche Bande knüpfte Kerner mit Moritz von Schwind und Philipp Otto Runge, den großer Malern der Romantik. Mit geradezu überschäumender Begeisterung schildert er in einem Brief an Uhland, daß ihn noch nichts so hingerissen habe wie der Anblick des ersten Gemäldes von Dürer.
Was die Weinsberger besonders angeht, sind Kerners Arbeiten auf dem Gebiete der Heimatgeschichte ihrer Stadt. Die heute weithin bekannte Burg war seit ihrer Zerstörung im Bauemkrieg (1525) völlig in Vergessenheit geraten. Vielmehr hat man noch jahrhundertelang zu ihrem Verfall beigetragen und ihre Mauern systematisch abgerissen und zum Aufbau der Stadt benützt. Mit Kerners Ankunft in Weinsberg im Jahr 1819 wurde dies schlagartig anders. Schon ein Jahr später erscheint seine Schrift über "Die Bestürmung der württembergischen Stadt Weinsberg durch den hellen christlichen Haufen im Jahr 1525. Aus handschriftlichen Überlieferungen dargestellt". Zur Rettung der historischen Burgruine gründet er 1823 den Weinsberger Frauenverein, und der König von Württemberg übergibt das ehrwürdige Baudenkmal dem Verein als Eigentum. Die Trümmerhaufen werden weggeräumt, Wege und Anlagen geschaffen und die Ruine der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. In Aufsätzen und Gedichten verherrlichten er und seine Freunde Weinsbergs Vergangenheit. Die Geschichte der "Treuen Weiber von Weinsberg" erkannte Kerner schon damals als glaubwürdig, was von der heutigen Geschichtswissenschaft bestätigt wird. Durch sein Wirken ist Weinsberg bekannt und dem Fremdenverkehr erschlossen worden. Die Namen und Inschriften auf der Burgruine Weibertreu künden heute noch von den vielen berühmten Gästen, die als Freunde Kerners Weinsberg besuchten.
Zauber der Persönlichkeit
Kerners Haus wurde durch die Vielseitigkeit und persönliche Anziehungskraft des Arztes, Dichters und Okkultisten und dank der Lebenstüchtigkeit seines Rickele zum Treffpunkt der Romantik in Schwaben und zu einem Asyl für Unzählige, die dort Anregung, Trost oder Heilung suchten. "Der Reisende glaubte nicht in Schwaben gewesen zu sein, wenn er nicht das Kernersche Haus besuchte", schreibt David Friedrich Strauß in einem Nekrolog. Theobald Kerners Buch "Das Kernerhaus und seine Gäste" und der fast unbegreiflich umfangreiche Briefwechsel des Dichters vermitteln uns eine Vorstellung von der großen Zahl seiner Freunde und Besucher. Neben vielen anderen begegnen uns dort die Namen von Arnim, Alexis, Brentano, Freiligrath, Fouqué, Ganzhorn, Geibel, Lenau, Friedrich List, Graf Löben, Robert Mayer, Mörike, Wilhelm Müller, Ludwig Richter, Gustav Schwab, Schelling, Schleiermacher, Gotthilf Heinrich von Schubert, David Friedrich Strauß, Silcher, Uhland, Varnhagen von Ense und Friedrich Theodor Vischer. Jahrzehntelang zog Kerner Menschen verschiedenster Art an: Studenten und Handwerksburschen, Dichter und Philosophen, Ärzte und Theologen, Musiker und Maler, Grafen und Fürsten, Engländer und Polenflüchtlinge, Geisterseher und Skeptiker. "Es hat niemals und nirgends wieder in Deutschland in irgendeinem Schlosse oder Bürgerhause diese festliche Genialität der Geselligkeit gegeben" lautet ein Urteil unserer Zeit (Fritz Martini). Alle Gäste fanden einen Platz am runden Tisch, wo es kein Unten und Oben gab. Nicht selten verzichtete die ganze Familie auf das eigene Bett, wenn zu viele Besucher kamen. Alle fühlten sich angezogen von dem Zauber des liebenswürdigen Gastgebers, der ein wahres Genie der Freundschaft war, ausgezeichnet mit den Gaben der Poesie, der geistreichen Erzählkunst, des spritzigen, oft auch makabren Humors und mit den Tugenden der Herzensgüte, Demut und Duldsamkeit.
Ein überragender Dichter ist Kerner nicht gewesen. Den Höhenflug eines Mörike oder Hölderlin konnte er nicht erreichen. Ihm fehlte es an künstlerischer Strenge und Selbstkritik. Oft hat er die sprachliche Kunstform vernachlässigt. Aber das Dichten und Mitteilen seiner Gefühle war ihm ein elementares Bedürfnis. Kerner war eine poetische Natur, wie sein nüchterner, kämpferischer, politisch leidenschaftlicher engagierter Freund Uhland bestätigte.
In der Nacht vom 21. auf den 22. Februar 1862 erlag Justinus Kerner einer heftigen Grippe. Auf dem Weinsberger Friedhof ruht er neben seinem Rickele. Nach dem Beispiel von Dürers Grab in Nürnberg wünschte er sich eine einfache liegende Grabplatte. Sie trägt die für seine Bescheidenheit bezeichnende Inschrift: Friederike Kerner und ihr Justinus. Sein kleines Haus am Fuße der historisch bedeutsamen und malerischen Burgruine Weibertreu wird liebevoll gepflegt und Jahr für Jahr von vielen Freunden und Verehrern des schwäbischen Dichters und Arztes besucht.
Weinsberg, Mai 1975
Mit freundlicher Genehmigung des Autors