Justinus Kerner

Das Bilderbuch aus meiner Knabenzeit
Mein Bruder Georg


Ich darf ihm wohl mit Fug eine Reihe von Blättern in der Geschichte meiner Jugend weihen, besonders da die Hauptepoche seines vielbewegten Lebens in dieselbe fiel und ich auch schon als Knabe den innigsten Anteil an seinen Schicksalen nahm.

Er war im April 1770 (auch in der Oberamtei zu Ludwigsburg) geboren. Er kam unzeitig, schon am Ende des siebenten Monats der mütterlichen Schwangerschaft, zur Welt. Der Vater konnte ihn mit den Fingern spannen, und sein Gewicht entsprach dieser Länge. Die Mutter hatte Kindszeug zurechtgemacht, sie mußte Puppenzeug nehmen, so klein war er. Eine kräftige Amme zog ihn auf. Es sind noch einige Blätter vorhanden, die den Anfang seiner Lebensgeschichte enthalten, die er seinem Sohne hinterlassen wollte; leider überraschte ihn aber damals der Tod. Er muß sein baldiges Herannahen gefühlt haben, denn er schrieb in der Vorrede an seinen Sohn:

»Du bist 14 Monate alt, ich bald zweiundvierzig Jahre, wir werden uns schwerlich kennenlernen. Ein hartes Zeitalter kürzte meine Existenz, ein besseres wirst Du erleben. Weile dann bei der Asche Deines Vaters, ehre durch eigene Tugend das Andenken deiner Eltern und Voreltern und empfange als Vermächtnis einzelne Bruchstücke aus meinem Leben, so weit als mein Gedächtnis hinreicht, unterstützt durch die Trümmer meiner Tagebücher; benütze, mein teures Kind, die von mir oft teuer bezahlten Erfahrungen und erblicke in diesem Geschenk einen Beweis meiner väterlichen Liebe. Oh, mein Sohn! warum muß ich an das Grab denken, jetzt, wo ich dich noch auf meinem Schoße trage? Doch so will es das Geschick, und es frommte zu nichts, gegen seine Ratschläge zu murren.« – Aber auch diese seine Lebensgeschichte zu schreiben war ihm nicht mehr vergönnt; er brachte sie nur auf wenige Blätter, und seine Tagebücher wurden ein Raub schon eines früheren Brandes zu Hamburg, im Herbste 1822.

Aus wenigen von ihm geschriebenen Blättern und Erinnerungen seiner Freunde und Zeitgenossen sind von ihm folgende Erzählungen zu machen:

Er war von einer außerordentlichen Beweglichkeit und Lebendigkeit des Geistes und des Körpers. Von dem Vater erhielt er eine sehr strenge Erziehung, und er klagte noch in späterer Zeit über die harten körperlichen Züchtigungen, die er von ihm erleiden mußte.

Wie sein späteres Leben bei dieser Lebendigkeit des Geistes und Körpers einen furchtlosen entschlossenen Charakter zeigte, so bewies er solchen schon in früher Jugend, wovon gleichfalls folgende Züge Beweise sind:

Wir hatten zu Ludwigsburg ein ausgemauertes Familienbegräbnis. Als die Mutter meines Vaters starb, gab mein Vater dem dazumal ungefähr zehnjährigen Knaben auf, auf den Kirchhof zu gehen und dem gerade am Grabe beschäftigten Totengräber irgend etwas in Hinsicht auf die Begräbnisstunde auszurichten. Der Knabe kam im Augenblicke an, wo der Totengräber den Kopf unseres Großvaters ausgrub. Da nahm der Knabe sogleich den Kopf wie einen freudigen Fund, und in der Meinung, dem Vater dadurch das größte Vergnügen zu machen, überraschte er denselben in der Schreibstube damit. Es ist natürlich, daß der Vater ihn mit demselben nach vorangegangenem starkem Verweise und Belehrung zur Ruhestätte zurückschickte, dem Knaben aber blieb unbegreiflich, warum der Vater keine Freude an dem Kopfe seines Vaters gehabt hatte.

Schon damals befand er sich in der Akademie, in welche er bereits in seinem achten Jahre kam. Als ein siebzehnjähriger Jüngling aus der Akademie in die Vakanz gekommen, bestieg er bei einem ganz im Brande stehenden Hause eine Leiter, auf die sich kein Mensch mehr wagen wollte, und brachte mit höchster Gefahr seines Lebens ein Kind, einen Knaben, aus den Flammen hernieder. Es ist merkwürdig und traurig, daß derselbe Knabe, zum Manne gereift, einen schauerlichen Mord beging und zu Ludwigsburg mit dem Schwerte hingerichtet wurde.

Schon mehrere Jahre vor meiner Geburt hatte mein Bruder Georg die Carls-Akademie in Stuttgart bezogen, die damals in ihrer schönsten Blüte war; sie wurde der Gegenstand seines sehnlichsten Verlangens, indem er der strengen väterlichen Erziehung müde war. Sein beweglicher Geist hatte ihn zum Militärstande bestimmt, allein dies war gegen des Vaters Willen, der aus ihm einen praktisch tüchtigen Mediziner und Chirurgen bilden wollte, und nach dessen Wunsche mußte er auch seine Studien in der Akademie einrichten, oft aber durchbrach sein freier Sinn den strengen militärischen Charakter dieser Anstalt.

Einer seiner Lieblingsgedanken war, sich nach Vollendung seiner Studien als Arzt auf ein die Welt umsegelndes Schiff zu begeben, auch schwebte ihm immer Surinam als der Ort seines künftigen Wirkungskreises vor. In dieser Hoffnung hatte er schon früher seinen Körper auf alle Weise abgehärtet und sich jeder Entbehrung unterworfen, und ich erinnere mich, daß er in den Vakanzen, in denen er in das väterliche Haus zurückkam, sich nie einer Bettlade bediente, sondern immer in einer Hängmatte schlief, die er an der Decke seines Zimmers aufgehängt hatte. Die Französische Revolution, die so vieles änderte, gab auch ihm eine andere Richtung.

Mit ihm befanden sich zu gleicher Zeit der nachherige Professor Pfaff (jetzt noch in Kiel lebend) und Reinhold, nachheriger holländischer Diplomat, in dieser Anstalt; besonders schloß er hier mit letzterem ein Freundschaftsbündnis, das nie und durch nichts gestört ward, obgleich beide noch Knaben waren, als sie sich trennten, er 14 Jahre, Reinhold 13 Jahre. Reinhold verließ die Akademie im Jahre 1784, und sie sahen sich erst wieder im Jahre 1795 in Hamburg.1)

Meines Georgs Freund Pfaff schrieb aus den Zeiten der Carls-Akademie nachstehendes von ihm:

»Ich lernte Kerner erst, seitdem er Chevalier – Ritter eines akademischen Ordens, der den Ausgezeichnetsten in ihren Studien erteilt war, kennen. Er war eine Lehrabteilung vor mir voraus. Hier knüpfte sich bald ein inniges Band der Freundschaft. Er zeichnete sich schon damals durch seine große praktische Tendenz und Tatkraft aus. Müßige theoretische Untersuchungen waren nicht seine Sache. Er war schon ein glücklicher und berufener praktischer Arzt, als er kaum ein Jahr Medizin studiert hatte. Er wollte sogleich seine Kenntnisse zum Nutzen seiner Mitmenschen anwenden. Feinere Anatomie, ferner Chemie, Botanik kümmerten ihn wenig, aber wohl interessierte ihn z. B. die gewöhnliche Apotheken-Chemie, wie sie zum richtigen Aufschreiben von Rezepten notwendig ist. Seine außerordentliche Lebendigkeit und Unruhe machten ihm den praktischen Wirkungskreis zum Bedürfnis. Den größten Einfluß auf seine Studien äußerte indes die Französische Revolution. Geschichte war es, was ihn am meisten anzog. Alles bezog er von nun an auf die Ausbreitung und Realisierung der großen Grundsätze, welche die Französische Revolution aufgestellt hatte, in allen Verhältnissen. Dadurch wurden freilich seine eigentlichen medizinischen Studien noch mehr gestört, doch seine medizinische Praxis nicht, da er auf Menschen zu wirken keine bessere Gelegenheit kannte. Die Geschichte seiner Promotion 1791 ist interessant. Er hatte weder Zeit noch Lust, eine Dissertation zu schreiben; seine Freunde übernahmen diese Mühe. Es wurden einige dreißig Paragraphen über Metastasen zusammenfabriziert und ungefähr drei oder vier Krankengeschichten als Beilage erdichtet, und der Zweck so vollkommen erreicht, als wenn Boerhave oder Haller selbst die Feder geführt hätten. Nach geschehener Promotion hielt der feurige Republikaner eine deutsche Rede zum Abschiede, was ganz ungewöhnlich war, in welcher er einen Überblick der Geschichte gab und die großen Ereignisse verkündigte, die Europa bevorständen.

Aus unserm Zusammenleben als Chevaliers verdient noch eine Maskenvorstellung auf einer großen öffentlichen Maskerade Erwähnung, in welcher von vier gleichgesinnten Jünglingen in Gegenwart der vielen emigrierten Adeligen, die sich damals in Stuttgart befanden, und namentlich auch der Grafen von Artois – der Brüder des jetzigen Königs –, der Prinzen von Bourbon usw., die Abschaffung des Adels pantomimisch dargestellt wurde. Einer von uns, selbst ein Edelmann (Herr v. Marschall), jetzt erster Minister eines angesehenen deutschen Fürsten (Nassau), repräsentierte den Adel und hatte zu Emblemen einen großen Stammbaum, eine Menge Wappen, mit denen er behängt war. Kerner, ein junger Schweizer, Peters, und ich stellten, mit den drei Nationalbändern geschmückt, die französische Nation vor und beraubten unter manchen komischen Szenen den Edelmann aller seiner Wappen, zerrissen seinen Stammbaum und jagten den Kahlen endlich aus dem Saal. Diese Maskenvorstellung machte so viel Aufsehen, daß eine Erwähnung davon in den französischen Zeitungen geschah.

Die genannten Verbündeten hatten den Scherz ausgeführt, ohne ihre Kameraden vorher davon zu unterrichten, was einige darunter so sehr verdroß, daß sie beschlossen, ihn zu überbieten. Kurz vor der Ausführung erfuhr Kerner noch davon und ließ nun nicht nach mit Bitten, bis ihm gestattet ward, daran teilzunehmen. An dem dazu bestimmten Abende erschien im Redoutensaal eine Maske, die Zeit vorstellend, eine Urne im Arm, die durch ihre Schönheit allgemeines Aufsehen erregte. Stumm durchschnitt sie den Saal und setzte sich endlich während des Tanzes auf eine Seitenbank. Kerner setzte sich zu ihr und lehnte, indem er dem Tanz zusah, den Arm auf die Urne, die die Maske neben sich gestellt hatte. Plötzlich stand diese auf, ohne jene mitzunehmen, und verließ den Saal. Als Kerner sie in Sicherheit wußte, stand auch er auf und stieß wie aus Ungeschicklichkeit die Urne um. Kaum fiel sie auf den Boden, so entrollten ihr eine Anzahl Zettel, die Menge strömte herbei, jedes erhaschte davon; sie enthielten die ärgsten Freiheitslehren, wie sie damals die französischen Zeitungen gaben, besonders Angriffe gegen die damals in Stuttgart anwesenden Prinzen. Diese eilten zum Herzog und beschwerten sich bitter. Alle Ausgänge wurden augenblicklich geschlossen; vergeblich, es zeigte sich keine Spur von der Maske. Polizeidiener durchsuchten die Stadt, selbst die Häuser nach ihr – sie blieb verschwunden. Tags darauf ward bei allen Handwerkern nachgeforscht, welche etwa bei Verfertigung der Maske geholfen; nichts kam ans Licht. – Danneker und Koch2), beide in der Akademie, waren die Verfertiger und rühmten sich dessen in spätern Jahren noch mit Entzücken. Unter den Verschworenen, treu und vorsichtig, fand sich kein Verräter.« – Reinhold schrieb von ihm:

»Die schönste Epoche seines Lebens war die seiner Begeisterung für Ideen, welche eine Wiedergeburt der Menschheit zu begründen schienen und die sich vielleicht in keinem Gemüte reiner ausgesprochen hat. Diese Begeisterung war überhaupt der hervorragende Zug seines Charakters, die sich in so vielen Handlungen der Aufopferung und Selbstverleugnung aussprach, welche sein Leben vorzüglich in jener Zeit auszeichneten. Die kindliche Hingebung, die all sein Tun begleitete, gewann ihm alle Herzen. Gegen die Revolution verhielt er sich wie Saïde gegen Mahomed, er gehörte ihr ganz an, solange er sie für tugendhaft ansah, von ihren Ausartungen hat sich keiner tapferer losgerissen, und er war mehr als einmal nahe dabei, ihr Opfer zu werden.

So wie in jedem Menschen sich ein Teil der Tendenzen seiner Zeit darstellt, so hat sich in ihm ihr edelstes Streben geoffenbart. Glühende Liebe für das Schöne umgab seine Jugend mit dem strahlendsten Glanze, glühender Haß für das Schlechte adelte sein männliches Alter, aber trug zugleich dazu bei, die Keime seines Lebens zu zerstören. Die Natur hatte ihm ausgezeichnet schöne Gesichtszüge verliehen. In seinen Jünglingsjahren glaubten viele in seinen Gesichtszügen die eines Christuskopfes zu erkennen, wie die veredelnde Tradition ihn dargestellt, später wurde ihm eine große Ähnlichkeit mit Bonaparte beigelegt, ehe die Züge des letztern sich vergröbert hatten.«

Schon von der Akademie aus hatte er im Jahre 1790 Straßburg heimlicherweise mehrmals besucht, namentlich in Begleitung seines Freundes Marschall, auch eines Zöglings der Akademie, der nachher Staatsminister in Diensten des Herzogs von Nassau wurde und, wie Pfaff erzählt, auch damals bei jener demokratischen Maskenszene figuriert hatte.

Als er nun im Jahre 1791 die Akademie verließ, drang er in seinen Vater, ihn auf die Universität Straßburg zu lassen, die dazumal, besonders für Medizin und Chirurgie, in großem Rufe stand; der Vater willigte nicht darein, weil er die freien Gesinnungen seines Sohnes kannte, die in der Nähe des damals ausgebrochenen Vulkanes der Französischen Revolution, wie vorauszusehen war, nur mehr Nahrung erhalten mußten. Gegen den väterlichen Willen aber ging sein Zug dahin. Erst als von den Professoren daselbst, namentlich von Sömmering, unterzeichnet vom Maire Dieterich, Zeugnisse einliefen, daß er seinen medizinischen Studien mit Fleiß obliege, stellte sich der Vater zufriedener, und erhielt er auch eine herzogliche Unterstützung. Zu Straßburg lernte er Adam Lux, den nachherigen Verteidiger der Charlotte Corday, kennen, den er später in Paris wieder traf. Mit ihm besuchte er die revolutionären Klubs und war einer der ersten, die damals hier für eine Republik predigten; die Folge war, daß er die herzogliche Unterstützung und alle Unterstützung vom Vater verlor. Von nun an wurde er in den Strudel der französischen Politik gerissen.

Er ging fast ohne alle Barschaft zu Fuß nach Paris, war zuerst für eine Republik, dann Konstitutioneller und Girondist und kam durch seine treue Anhänglichkeit an den konstitutionellen König am 10. August 1792 in die augenscheinlichste Lebensgefahr.

Eine geistreiche Landsmännin, eine Jugendfreundin Schillers, die sich der Kunst wegen zu Paris aufhielt, Fräulein Ludovike Reichenbach, nachher verehelichte Simanowitz, kam damals öfters in Paris mit ihm zusammen, und ich erhielt von ihrer Feder über sein damaliges Leben folgende Notiz:

»Georg Kerner kam von Straßburg mit Empfehlungen von den dortigen Jakobinern zu Fuß nach Paris. Wohl keinen Gulden trug er in der Tasche und lebte unterwegs wie auch eine Zeitlang in Paris deswegen nur immer von Milch. In Chalons hielt er eine Rede in der Jakobiner-Versammlung, ebenso in Paris. Die Jakobiner der Hauptstadt lachten über seinen Akzent, denn er behielt den schwäbischen Dialekt in der französischen Sprache, selbst als er ihrer ganz mächtig war, bei, hatten aber eine Freude an seiner Kraft und Begeisterung und nahmen ihn als Mitglied auf. Er war ganz von der Revolution ergriffen, und oft setzte ich ihn zur Rede, daß er seinen medizinischen Studien nicht mehr nachgehe. Es ging ihm die große Sache der Menschheit über alles. Aber eben deswegen konnte er der zum blinden Fanatismus gewordenen Politik der Jakobiner nicht mehr beipflichten, er wurde ihr eifrigster Widersacher. In den Tagen, wo der König sich in höchster Lebensgefahr befand, ging Kerner in seiner National-Uniform in die Tuilerien mit festem Vorsatz, den König zu beschützen. Mehrere Tage ließ er den König nicht aus den Augen und hätte alles um sein Leben gewagt.

Der damalige Maire von Straßburg, Dieterich, den Kerner sehr achtete, ließ einen Anschlag gegen die Jakobiner drucken, aber kein Mensch wagte in der völlig aufgestandenen, wütenden Hauptstadt diese Zettel anzuschlagen. Kerner machte Pappe, nahm eine große Schüssel mit derselben in eine Hand, in die andere die Anschläge, in den Mund aber einen Säbel, sich sogleich damit zu verteidigen, und heftete, rings vom Gesindel verfolgt, zum Schauer seiner Freunde, die Zettel an alle ausgezeichneten Straßenecken an.

Delaveau, ein gefährlicher Jakobiner, begegnete ihm einst und sagte zu ihm: ›Die Guillotine ist permanent.‹ Überall war er als Abtrünniger der Jakobiner bekannt, allein er hatte durchaus keine Furcht und sagte mir oft, er glaube, daß er bald werde guillotiniert werden. Einst ging ich mit ihm nahe bei der Nationalversammlung au quai des feuillants spazieren, wo sich das Volk immer versammelt hielt; sie schrieen: ›Sehet den kleinen Aristokraten, werft ihn in das nächste Bassin!‹ Ich hatte erstaunlich bange, ihn aber rührte das nicht.

Der Maire von Straßburg ward ins Gefängnis geschleppt. Kerner wollte ihn besuchen. Man stellte ihm vor, warum er zu einem Verräter wolle. Er aber sagte kühn. ›Der Verräter ist mein Freund.‹ Dies frappierte die Umstehenden, und er wurde zu ihm gelassen.

Als einst ein Deputierter, dessen Name mir entfallen ist, sich des bekannten Generals Lafayette annahm und sich unter dem Volk blicken ließ, so sprang alles wütend herbei und wollte ihn töten, aber Kerner drang noch wütender in den nächsten Volkshaufen ein, ergriff den Deputierten und rettete ihn in eine Wachtstube mit der größten Gefahr seines eigenen Lebens. Dieser Deputierte wurde in der Folge sein eifriger Freund.

Am 9. August abends ging Kerner in Uniform in die Tuilerien, aus Anhänglichkeit an den König, und wachte die Nacht dort. Man weiß, wie es damals ergangen; Kerner wäre mit aller Gewißheit umgekommen, hätte ihn nicht glücklicherweise ein alter Paß von den Jakobinern in Straßburg, der sich noch zufällig in seiner Tasche befand, gerettet. Er war genötigt, sich vom 10. zum 11. August in einer Wachtstube, unter einer Pritsche liegend, die von einer Menge Sansculottes umgeben war, mit Anhaltung jedes stärkeren Atemzuges, versteckt zu halten. Seine Freunde suchten ihn auf, seine Hausleute weinten um ihn und sagten: ›Kerner ist nun tot, denn alle Männer, die noch leben, sind gekommen, er allein nicht.‹ Am 11. früh, als die Wachtstube von den Sansculottes sich entleerte, ging Kerner zu einem Freunde, nahe an dem Schlosse, unterwegs aber wurde er ergriffen, und nur der erwähnte Paß war seine Rettung.

Nicht allein das damalige Leben der politischen Welt, auch andere Bilder erschienen seiner lebendigen Phantasie im herrlichsten Lichte. In einem lutherischen Lande geboren und erzogen, erschien ihm ein Frauenkloster als ein besonders anziehendes Rätsel, als ein höchst romantisches Bild. Wir gingen einmal zusammen – Herr Rheinwald, sein Freund, war mit uns – auf dem Montmartre spazieren. Auf diesem Berge war ein schönes Fräuleinkloster, die Damen waren noch beisammen, jedoch durfte man hinein. Kerner hatte ein großes Verlangen, wenigstens eine Nonne zu sehen. Er stellte sich die reizendsten Frauen vor, die nur beten und singen und in Heiligkeit leben. Wir kamen zum Sprachgitter; Kerner klopfte an, und gerade trat eine schöne junge Dame ans Fenster und frug, was wir wollten. Kerner, außer sich, trat vor und sagte: ›Madame, je suis ravi de vous voir.‹ Die Dame, ganz betroffen, zog eilig den Umhang vor und verschwand. So war er mit Herrn Rheinwald in einer Kirche, die Nonnen sangen, aber ungesehen, zusammen. Kerner war ganz begeistert über die himmlischen Stimmen: ›Das müssen Engel sein und schön und jung!‹ Rheinwald sagte: ›Nein, lauter alte, neidische, zahnlose Dirnen! Hören Sie nicht, wie die Stimmen schettern?‹ Kerner wurde wütend: ›Nein, sage ich, schön und jung und unschuldig wie die Engel!‹

Immer war er auch bei dem äußersten Mangel, der ihn öfters traf, da er von den Seinigen keine Unterstützung hoffen durfte, heiter und voll Lebendigkeit, und alle Menschen, die ihn kennenlernten, liebten ihn.« –

Mit ihm befand sich damals der vor einigen Jahren zu Stuttgart als Pädagogarch gestorbene Professor Kammerer in Paris, und von ihm ist folgende Mitteilung:

»Sosehr Kerner mit ganzer Seele der Freiheit anhing, das Glück derselben über die ganze Welt verbreiten zu können wünschte, so fand er doch jetzt, da er sich in der Nähe des Vulkans befand, von dem die Erschütterung ausging, bald den Boden ganz anders, als er sich in der Ferne vorgestellt hatte. Er lernte einige von den Revolutionsmännern und die geheimen Triebfedern und Leidenschaften, die sie beseelten, näher kennen, er hörte das wütende Geschrei und die rasenden, alles menschliche Gefühl empörenden Vorschläge, die von der Jakobiner-Tribüne ausgingen, und sah die schändlichen Mittel, die man zu ihrer Ausführung anwendete. Sein gerader, auf Menschenrecht und Menschenglück gerichteter Sinn ertrug es nicht, diesem Unwesen zuzusehen. Sosehr er daher als erklärter Klubs-Freund nach Paris gekommen war, so entschieden erklärte er sich nun dagegen, ohne deswegen seine Wünsche für Freiheit und eine wohleingerichtete Verfassung aufzugeben.

Kerner hatte sich nach und nach eine kleine medizinische Praxis erworben, wozu neben seiner Geschicklichkeit besonders auch seine Uneigennützigkeit nicht wenig beitrug. Außerdem hatte er seit dem Herbst 1792 den Auftrag erhalten, für die Hamburgische Zeitung (›Adreß-Comptoir-Nachrichten‹), die damals auf Kosten des dortigen Handelsmannes Klopstock, eines Bruders des Dichters, herauskam, wöchentliche Nachrichten aus Paris einzuschicken. Auf diese Art konnte er bei seiner Genügsamkeit sich recht gut fortbringen und selbst seiner Neigung, wohltätig zu sein, noch hie und da freien Lauf lassen; denn Gutmütigkeit, Edelmut, Biedersinn waren die Hauptzüge in seinem Charakter, und aus dieser reinen Quelle floß sein Enthusiasmus für Freiheit, die ihm anfänglich in goldenem Lichte entgegenglänzte. Dennoch war er nicht so blind und schwach, daß er sich so leicht durch Heuchler hätte täuschen lassen, ebensowenig im gemeinen Leben als in öffentlichen Angelegenheiten. Ich erinnere mich, ihn einst auf einem Spaziergange begleitet zu haben; es näherte sich uns ein in Lumpen gehüllter, elend und schwarzgelb aussehender Bettler. Kerner war im Begriff, ihm etwas zu reichen, plötzlich aber ergriff er die Hand des Bettlers, spie darein, rieb sie an seinem Rock ab – und siehe da, die schwarzgelbe Farbe, womit der Betrüger, Mitleid zu erregen, sich beschmiert hatte, ging ab, und er wurde mit einem derben Verweis entlassen.

Seine edlen Eigenschaften, die sich auf den ersten Blick in seinem Gesichte aussprachen, erwarben ihm immer mehr Bekannte und Freunde. Ohne besondere Adressen nach Paris zu haben, wurde er bald besonders seinen württembergischen Landsleuten bekannt, wovon ihn immer wieder einer dem andern zuführte, und unter diesen wurde die Bekanntschaft mit Graf Reinhard für ihn die folgenreichste. Alle waren ihm mit der innigsten Anhänglichkeit und Liebe zugetan, die er auch in hohem Grade verdiente; aber auch unter andern in Paris lebenden Deutschen und unter den Franzosen selbst wußte er sich Liebe und Wohlwollen zu erwerben; sogar Männer von der Regierung behandelten ihn mit Achtung und ließen seinen Grundsätzen Gerechtigkeit widerfahren. Kosciusko, Schlabrendorf, Ölsner, Ebel, Reinhard, Lux waren seine innigsten Freunde.«

In nachstehendem Briefe vom 30. Dez. 1792 an seinen Freund Reinhold erzählt er selbst einen Teil seiner Erlebnisse zu Paris während der sturmvollsten Zeit der Revolution.

»A Monsieur Jean Gotthardt Reinhold, Lieutenant dans le II. Bataillon du Régiment Nassau à Bois le Duc.

Paris, le 30. Dec. 1792. An I. de la R.

Gott verdamme mich, wenn ich so verschiedener Meinung von Dir wäre, als Du in Deinem Briefe, den ich soeben, abends um 6 Uhr, erhalte und um 7 Uhr beantworte, zu glauben scheinst. Ja, mein Bester, man muß in meiner Lage sein, um die Verschiedenheit meiner beiden Briefe einzusehen. Stelle Dir alle die schmerzhaften Gefühle vor, die die Begebenheiten des Augusts und Septembers in mir erzeugten; stelle Dir eine gewisse Art der Verzweiflung vor, die all diese Szenen in mir hervorriefen, und Du wirst nicht zweifeln, wie unendlich begierig ich war, an dem ersten glücklich scheinenden Umstande mich festzuhalten, der sich mir darbot, und dieser Umstand, ich gestehe es, war der glückliche Fortgang der französischen Waffen und der so günstige Einfluß, den derselbe, wie ich hoffte, auf die innere Lage Frankreichs und auf die Lage Deutschlands haben sollte.

Ich vergaß auf einen Augenblick den fressenden Krebs, der den französischen Staatskörper zugrunde richtet, ich vergaß auf einen Augenblick tausend Dinge, die ich nicht hätte vergessen sollen. Auf einige Augenblicke, sage ich! – denn das Tagebuch des Nationalkonvents, die Namen der gemordeten Bürger, die grenzenlosen Betrügereien, die überall verübt wurden, die schrecklichen Verirrungen des Freiheits-Fanatismus, die überhandnehmenden Bedürfnisse des Staats und der geringe Eifer, ihm auf eine reelle Art zu Hülfe zu kommen, die überall sich äußernden Symptome der Verdorbenheit oder der Unwissenheit, jene Schwäche verratende Prahlerei und jener allzu sichtbare Mangel an Tugend rief mich frühe genug aus meinen Träumen zurück. Ich fand, daß die Tugend der französischen Miliz so gering, die schändlichen Handlungen, die einzelne Teile derselben ausübten, so groß waren, daß die Anarchie, an der sie krank lag, so beträchtlich war, daß die Beispiele, die sie gab, die Nationen eher von Verbindungen abschreckten, als sie dazu einluden.

In Deutschland, hoffte ich, sollte die Freiheit einen günstigen Boden finden, diese Freiheit, die auf immer aus Europa verbannt zu sein scheint. England allein bietet noch einigermaßen ein erfreuliches Schauspiel dar; die strenge Behauptung einer Verfassung, die selbst bei ihren Mängeln dennoch das Nationalglück befördert und persönliche und Eigentumssicherheit begünstigt, diese strenge Behauptung, die selbst sonst entgegengesetzte Parteien zu einem Zweck, zur Erhaltung der Verfassung, vereinigt, ist in der Tat ein erhebendes, ich möchte beinahe sagen, rührendes Schauspiel; die nachdrückliche Sprache Englands kann vielleicht Einfluß auf Ludwigs Schicksal haben, seine Verteidigung von Deseze, Tronchet und Malesherbes ist vortrefflich, und wäre man in den Departementen minder Ochsenkopf und minder fanatisch, so müßten ihnen endlich wohl die Augen geöffnet werden. In dem Nationalkonvent scheint die Majorität der Redner gegen die Todesstrafe und für den Appell an das Volk, andere für die Verbannung, andere für die Gefangenschaft zu sein. Robespierre ist, wie Du Dir leicht vorstellen kannst, für die Todesstrafe. Das Sonderbarste in seiner Rede ist, daß er aus dem Grundsatze, der tugendhafteste Teil der Menschheit ist immer der kleinste, den Schluß machte, daß die kannibalenartige Minorität des Konvents der bessere Teil sei.

Du fragst mich nach der Sittlichkeit mehrerer Mitglieder? Robespierre war von jeher ein Narr – Manuel, der sich den ehrenwerten Haß der Pariser Unruhköpfe zugezogen hat, war bei der ehemaligen Polizei angestellt, wo nur wenige ehrliche Leute sich gebrauchen ließen; Condorcets unedler Charakter erhellt aus seiner Undankbarkeit gegen die Familie Rochefoucauld und aus seinem Betragen bei der Legislativen Versammlung – der ganze Nationalkonvent enthält nur wenige ehrliche Leute; der eine Teil predigte Unordnung und Gesetzlosigkeit, bis er seinen Zweck erreicht hatte, und predigt jetzt Ordnung und Gesetzmäßigkeit, um sich in dem errungenen Vorteil zu erhalten; der andere Teil fährt fort, die Anarchie zu begünstigen, weil ihm die gehofften Früchte nicht zuteil wurden und er noch nicht die Hoffnung, sie zu erringen, aufgegeben hat. Ich mag nicht weiter von diesen Leuten reden, die sich eher Rippenstöße als ihrem Vaterlande weise Gesetze zu geben verstehen; die kommenden Zeiten werden sie noch strenger als ihre jetzt lebenden und erbittertsten Feinde richten. Was die kommenden Begebenheiten des folgenden Jahres sein werden, so wage ich nicht irgendeine Mutmaßung mitzuteilen; die Wirkungen des Fanatismus waren von jeher fürchterlich – Krieg scheint für Frankreich, bei dem gestörten innern und äußern Handel, bei den wenigen Reizen, die Künste und Wissenschaften darbieten, und der Menge darbender Einwohner, jetzt je mehr und mehr Bedürfnis zu werden, und ich ahne noch immer, daß die Französische Revolution größere Umwälzungen in Europa zur Folge haben wird.

Seit dem Monat August befand ich mich niemals vollkommen wohl; nach den blutigen Szenen des Septembers war ich einige Tage krank, erholte mich, wiewohl nur unvollkommen; seit dem Monat November war ich zweimal schon sehr krank, daß man an meiner Genesung zweifelte. Ein fürchterliches Fieber hatte mich zum Gerippe abgezehrt; alle meine Geschäfte legte ich beiseite und besorgte nur die Hamburger Korrespondenz, wobei mir einer meiner Landsleute in den heftigsten Tagen meiner Krankheit hülfreiche Hand leistete. Ein schleichendes Fieber machte mich beinahe zu allen Geschäften unfähig, und nur die Freude, die Dein unverhoffter Brief bei mir erregte, gibt mir hinlängliche Kraft, ihn sogleich zu beantworten.

In Rücksicht meiner bisherigen Schicksale schreibe ich Dir noch folgendes: Am 10. August war ich auf der Wache in den Tuilerien, und ich weiß nicht, zu was mich das Schicksal noch aufbehalten hat; genug, ein Wunder erhielt mir das Leben. Ich stand an einem Seitenhofe des Schlosses (die Posten wurden immer durch das Los ausgeteilt); als die Gefahr dringend wurde, verließ uns die Kanone, die wir hatten, mit den Kanoniers und mehr denn drei Vierteil unserer Mannschaft, etwa zwanzig warfen sich in das kleine Wachthaus und erklärten, sich hier totschlagen zu lassen. (Wohl zu bemerken, daß uns ein Munizipal-Offizier, namens Borie, vorher die Artikel des Gesetzes vorgelesen, die uns zur Behauptung unseres Postens verpflichteten. Eine Kompagnie Schweizer war auch gegenwärtig, man zog aber diese gleich nachher in den innern Schloßhof zurück.) Kaum brüllte der erste Donner, so nahm die zusammengeschmolzene Garnison Reißaus. Ich war wie betäubt, tausend Bilder von den schrecklichen Folgen, die diese Blutszenen haben würden, drängten sich mir nacheinander mit Gewalt vor; ich konnte mich nicht zur Flucht entschließen, und da saß ich allein in meiner Wachtstube. Plötzlich fliegen einige Flintenkugeln an die Fensterrahmen. Vermutlich wurden sie nicht gerade geflissentlich dahin abgeschickt und sollten an den hervorragenden Teil des Schlosses gehen. Das Wachthaus stand in dem sogenannten Cour de Marsan. Jetzt fing ich an, an meine Selbsterhaltung zu denken und einen Zufluchtsort zu suchen, ich fand denselben unter dem Feldbett oder der hölzernen Bank, auf die man sich legt. Kaum war ich unten, und alle Augenblicke glaubte ich, die Bank stürze über mir zusammen, so drängt ein Haufen von Leuten in die Wachtstube, an deren entblößtem Füßen ich sah, daß sie keine Hofherren waren. Sie fanden einen guten Vorrat geladener Flinten, suchten überall über mir in den Strohsäcken und sahen zu allem Glück nicht unter das Lager. Ich hielt in diesem Augenblick meinen Tod für gewiß, übrigens behielt ich die größte Geistesruhe bei. Kaum war dieser Haufe hinaus, so verließ ich meinen Winkel, ging gerade zum Wachthaus hinaus und geriet mitten in einen Haufen von Sansculottes, die zum gegenüber befindlichen Tor hereinkamen. Ich nahm eine gleichgültige Miene an, und mein Gang war so unbekümmert, daß sie mich für einen der ihrigen hielten, und so gelangte ich in einem nahe liegenden Café an, nachdem ich noch vorher hart an einem gemordeten Schweizer vorüber mußte. Kaum war ich in diesem Café angelangt, so malten sich auf meinem Gesichte alle Empfindungen, die diese schreckliche Szene auf mich hervorbringen mußte, ich eilte nach Hause, wurde unterwegs zweimal angehalten, indem ich zu zweien Malen auf an mich gerichtete Fragen antworten mußte und man aus meinem deutsch-französischen Akzent schloß, daß ich ein verkleideten Schweizer sei, mein Brevet, half mir glücklich durch bis zur Wohnung eines Freundes. Ich hatte drei Nächte nicht geschlafen, das erste, was ich tat, war, mich aufs Bett zu werfen, wo ich 14 Stunden ununterbrochen fortschlief. Morgens um 6 Uhr am 10. August wußte ich schon, daß es übel mit dem Schloß aussehen würde; die kriechenden Schmeicheleien einiger Nationalgarden, die den König gleichsam führten, ihr Geschrei: ›Es lebe der König!‹, und ihr Stillschweigen, als man rief: ›Es lebe die Nation!‹, brachte gleich eine beträchtliche Spaltung unter der Garnison hervor; ferner brauchten die Feinde, um die Harmonie, die unter der Garnison herrschte, zu stören, eine Kriegslist, die mir augenblicklich von den wichtigsten Folgen zu sein schien; es langte nämlich gegen 6 Uhr ein ganzes Heer Sansculottes unter dem Vorwand, die Garnison zu verstärken, an, und das war sogleich das Signal einer gänzlichen Konfusion. Die Unentschlossenheit Ludwigs, die überhandnehmende Gefahr und seine endliche Entfernung in die Nationalversammlung brachte dieselbe auf den höchsten Grad. Die Kommandanten verloren den Kopf, man gab keine Befehle, machte keine Anordnungen mehr, und der gemeine Soldat war auf diese Art ganz sich selbst überlassen. Die Menge der Chevaliers und die Hof-Camarille, die die Nacht über in das Schloß kam, um vermutlich von den Fenstern aus zu schießen, hatten ebenfalls viel zum unglücklichen Ausgang dieses Tages beigetragen. – Am 21. September drohte mir ein heftiger Patriot meiner Sektion, in der ich als Royalist verschrieen war, und da es in diesen Tagen der Anarchie genug war, von einem Menschen bedroht zu sein, so machte ich mich in eine andere Gegend der Stadt, blieb etwa 4 Tage bei einem guten Freunde, und kaum waren die Barrieren wieder geöffnet, so begab ich mich aufs Land, wo ich einen Monat blieb.

In meiner Sektion gebot mir die Klugheit, noch nicht wieder zu erscheinen, da sie ohnehin eine der tollsten von Paris ist. Ungeachtet aller dieser Mißgeschicke und Verfolgungen, wollte ich gern mein Leben geben, wenn nur das Massacre vom 2. September nicht stattgehabt und man sich am 10. August minder kannibalisch betragen hätte. Du fragst mich, wie es mit meiner Wissenschaft geht? Ich werde vermutlich nächstens die hiesige schwedische Infirmerie übernehmen; zwar trägt sie nur 400 Livres jährlich ein, allein ich habe hier Gelegenheit, meine Wissenschaft auszuüben und dadurch vielleicht nach und nach eine kleine Praxis zu erlangen, im Falle ich hier bleibe, denn ein reizendes Anerbieten, das mir wiederholtemalen gemacht wurde, könnte mich wohl 150 Stunden weiter von Dir entfernen. Du wirst Dich aus den öffentlichen Blättern erinnern, daß an dem Tage, da man Lafayettes Sache in der Nationalversammlung diskutierte und man das vorgeschlagene Anklagedekret verwarf, mehrere Deputierte nach geendigter Sitzung von dem Pöbel verfolgt wurden. Ungefähr sechzig Nationalgarden hatten sich das Wort gegeben, in den Volksbühnen an diesem Tage zu erscheinen und durch die tiefste Ruhe das anwesende Volk zur Nachahmung zu bewegen; sechs kamen, und um nicht ohne von allen Seiten begafft zu werden, saßen wir mitten in einer der Volksbühnen. Die Sitzung war geendigt, kaum war ich unten auf der Straße, so sah ich einen der Deputierten von einigen wütenden Weibern und Kerls verfolgt – man warf ihm vor, für Lafayette gestimmt zu haben. Er ging unbekümmert seinen Gang fort, der mit jedem Augenblick gefährlicher wurde. Ich sah nicht sobald seine Gefahr, als ich mich ganz nahe hinter ihn machte und ihm zuflüsterte: ›Soyez tranquil, s'il le faut, je perirai en vous defendant.‹ Ich nahm auch meinen Säbel unter den Arm. Der zuströmende Haufen wurde jetzt immer größer, denn die Kerls riefen: ›Un voleur!‹, und wir konnten nicht weiter fort. Zum Glück war der Rücken des Deputierten durch eine Mauer geschützt, und ich haranguierte, so gut ich konnte, das Volk, beschwor es, sich nicht an seinen Gesetzgebern zu vergreifen; unterdessen, da ich so einigermaßen Ruhe herstellte, kamen mehrere Nationalgarden, wir nahmen den Deputierten hierauf in unsere Mitte, fielen in die Hände von Marseillner, flüchteten glücklich in ein Wachthaus und wurden hier belagert; fünf Deputierte hatten sich schon früher dahin geflüchtet, unter andern Dumontard, dessen Stellung hinter einem Tisch, auf welchem eine Trommel stand, die seinen Kopf dem Auge verbarg, ich niemals vergessen werde. Die Belagerung wurde mit jeder Minute ernstlicher, die Wache war auf dem Punkt, forciert zu werden – ich stand mit bloßem Säbel unter der Tür –, als ich plötzlich niemand mehr in der Stube gewahr wurde; alle hatten durch ein hinteres Fenster salus in fuga gesucht.

Jetzt lag mir nichts mehr an den Stürmern, sie konnten jetzt wohl eindringen, ich eilte durch die nämliche Öffnung den Deputierten nach, von denen Dumontard noch einmal in Feindes Gewalt geriet, woraus ich ihn wieder befreien half. Der erste Deputierte heißt Fourrier, aus dem Departement Hautes Pyrénées, wir sind jetzt die besten Freunde, und seine Freundschaft ist mir um so schätzbarer, da er ein edler, aufgeklärter Mann ist. Er kehrt zu Ende des folgenden Monats in sein Departement zurück und schlägt mir vor, bei ihm als Freund und Bruder zu leben. Ich habe mich nicht entschließen können aus Gründen, die Du Dir einbilden kannst, jedoch bin ich, im ganzen genommen, noch unschlüssig. Lailhassoi, den Du aus den öffentlichen Blättern kennen wirst und der auch Mitglied der Nationalversammlung war und aus Toulouse ist, hat mich ebenfalls eingeladen; ich hatte auf dieser Reise das Glück, diesen würdigen Mann wieder umarmen zu können.

Vor einigen Tagen ist Wolzogen hier angekommen, ich glaube, er hat Aufträge an das hiesige Gouvernement von dem Herzog. Daß Du Marschall gesehen hast, freut mich, ich beneide Dich in der Tat wegen dieses Glückes. Grüße mir ihn tausendmal und sage ihm, daß ich ihm verzeihen wolle, Fürstendiener zu sein, wenn er seinen Einfluß auf seinen Fürsten dazu verwenden werde, die kleine Zahl der Untertanen desselben glücklich zu machen.

Deine Nachricht von St Sernin freut mich. Du scheinst mir das Mitleiden, das ich über ihn äußerte, übel genommen zu haben – es tut mir leid – mein Mitleid erstreckt sich aber auf alle Emigrierten, die nicht feindlich gegen ihr Vaterland gehandelt haben – die übrigen verdienen alle den Galgen. Die französischen Prinzen handeln schändlich, das Schicksal des unglücklichen Königs ist besonders ihnen zuzuschreiben. Einige Sektionen, namentlich die von Luxembourg und Theatre français oder jetzt Marseille und die Section de l'Abbaye (die meinige), haben einen Eid geschworen, daß, im Fall der Konvent den unglücklichen Monarchen nicht zum Tode verdammen sollte, sie ihn selbst daniederstechen würden. So sehr groß ist die Anarchie, daß ein Haufe verrückter Kerls im Angesicht der Gesetzgeber sich über alle Gesetze erhebt. Sie träumen, eine unsterbliche Handlung zu begehen, sie sprechen von Brutus und Cäsar – gleich als fände eine Ähnlichkeit zwischen Ludwig und Cäsar statt, wovon jener in einer drückenden Gefangenschaft schmachtet, während dieser am Morgen seines Todestages mit einem Wort noch eine halbe Welt zittern machen konnte! Der Unterschied ist unendlich, und diese Elenden, statt an die Seite eines Brutus sich zu schwingen, werden unter die unterste Klasse gemeiner Mörder zurücksinken. Allein diese Leute sind der Überlegung unfähig, durch ihre Leidenschaften verblendet, glauben sie in die Fußstapfen der größten Söhne Roms zu treten und gehen den Weg gewöhnlicher Banditen – Adieu, Republik, adieu, Freiheit! – wenn diese Leute nicht bald als Narren erklärt werden. Vorgestern wollte man eine kleine Wiederholung der Szene vom 2. September machen, allein man traf die nötigen Anstalten, um den teuflischen Projekten dieser Republikaner zuvorzukommen. Sie wollten die Sturmglocke läuten, Santerre und der Kommandant des hier befindlichen Marseiller Bataillons rüsteten sich aber zum Widerstand. Einige Sektionen, besonders die der Gardes français, haben diesen Entschluß laut mißbilligt; der Gemeinderat scheint aber nicht mit dieser Mißbilligung zufrieden zu sein; derselbe hat auch gestern den Schluß gefaßt, daß die Tempel-Kommissärs nichts mehr in ihren Berichten von der königlichen Familie erwähnen sollten, insofern es das öffentliche Mitleiden erregen könnte.

Schreibe Marschall, daß ich oft an ihn denke und er mir doch auch einmal einige Linien schicken soll. Er wird darüber nicht in Ungnade fallen, wenn er nach Paris einen Brief schickt. Gib ihm so einen kleinen Auszug aus meinem Brief und versichere ihn meiner aufrichtigsten Freundschaft. Jetzt adieu! mein liebster, mein bester Reinhold! Ich hoffe, Dir in meinem nächsten Brief bessere Nachrichten von meiner Gesundheit geben zu können, die jedoch bei meinen tausend Bedrängnissen nicht so bald vollkommen hergestellt sein wird.

Weißt Du nichts von van de Velden? Grüße mir St Sernin, wenn er bei Dir ist, unbekannterweise. Petif, Vellnagel, Dertinger, was machen sie? Lebe wohl! Ewig Dein Freund

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Im Herbste 1799 ging Reinhold nach Berlin als Gesandter. Nach der Einverleibung Hollands lebte er in Paris als Privatmann, im Jahre 1813 war er Gesandter in Florenz, darauf Gesandter in Rom, wo er das Konkordat bis zum Abschluß vorbereitete. Das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten wurde ihm angetragen, er nahm es aber nie definitiv an. Zuletzt ward er Gesandter in der Schweiz. Er privatisierte dann in Hamburg, wo er im August 1838 starb.

Beide nachher berühmte Künstler: Danneker Bildhauer, Koch Maler.