Justinus Kerner

Das Bilderbuch aus meiner Knabenzeit
Mein Bruder Louis


Das Wesen meines zweitältesten Bruders Louis war eine unsägliche Gutmütigkeit. Er war wie der Bruder Georg schnell aufbrausend, aber sein Feuer zündete nicht, er war zu gutmütig und zu ängstlich. Er hatte das Gemüt der Mutter seiner eigentlichen Natur nach. Mit diesem wollte er am schlüpfrigen Freiheitsbaume der neunziger Jahre hinauf, aber es fehlte ihm die Leichtigkeit des Bruders Georg, er glitt bald wieder herunter, was oft komische Szenen veranlaßte. Er war klein wie der Bruder Georg und die Mutter, war aber bei seiner Kleinheit korpulent und hatte nicht Georgs feine Vogelknochen, auch nicht dessen Flügel zum Aus- und Aufflug.

Es trieb ihn immer eine innere Unruhe und Unzufriedenheit, aber er konnte nichts zur eigentlichen Ausführung bringen. In eine Schreckenszeit taugte er nicht, und doch trieb es ihn immer zu ihr hin, wie den Schmetterling zum versengenden Lichte. Er hatte das Studium der Theologie kaum im Stifte zu Tübingen angetreten, als es ihm beifiel, der Stand eines Kaufmanns sei doch ein glücklicherer, freierer als der eines Pfarrers, und so erklärte er in der ersten Vakanz dem Vater in Ludwigsburg, er wolle Kaufmann werden.

»Nun ja«, sagte mein Vater, »ich will dich die Probe machen lassen, und unser braver Nachbar und geschickter Kaufmann, Herr Sprößer, soll dich mit in die große Handelsstadt Frankfurt nehmen, wohin er jetzt zur Osterzeit auf die Messe reiset; da beschau dir denn auch vorher das Leben eines kaufmännischen Lehrlings, denn damit mußt du doch erst den Anfang machen; gefällt dir solches, kannst du sogleich dort bleiben.« Herr Sprößer nahm nun den Bruder Louis um diese Zeit mit sich nach Frankfurt. Die Reise gefiel ihm gar sehr und auch die Stadt Frankfurt. Nun führte aber Herr Sprößer, welcher die geheimen Gesinnungen meines Vaters in dieser Sache wohl wußte, ihn in eine enge, finstere Gasse. Dort stand ein kleines Haus, das am Fenster im Erdgeschosse heraushängende Heringe und Tabaksrollen als die Wohnung eines Spezereihändlers bezeichneten. »Hier müssen wir hinein, lieber Herr Louis«, sagte Herr Sprößer, »denn da wird, wie ich soeben im Gasthofe ›Zum Weidenbusch‹ im Frankfurter Anzeiger las, ein tüchtiger junger Mensch in die Lehre gesucht.« »Und da gehe ich nicht hinein«, sagte Louis. »Nun, es ist ja kein Muß, daß Sie dann bleiben sollen«, erwiderte Sprößer, »sehen Sie sich die Sache nur einmal an; ich habe mit dem Herrn ein kleines Geschäft abzumachen, er hat auch einen Lehrling aus Ludwigsburg, den ich ihm vor einem Jahr zusandte und der bald aus der Lehre treten wird; es ist ein junger Blaufelder, den Sie ja wohl noch kennen werden, und da unterhalten Sie sich mit ihm, bis das Geschäft abgetan ist. Hat Herr Speck noch nicht zu Mittag gegessen, so speisen wir mit ihm.«

Dem guten Louis war da der Mut, den Stand eines freien Kaufmanns zu wählen, schon sehr gefallen, aber er fiel bald noch tiefer. Herr Speck war gerade im Begriff, zu Tische zu gehen, und lud Herrn Sprößer und seinen Schützling dazu ein. Da kam auch der Lehrling Blaufelder, ein alter Schulkamerad des Louis, aber nicht als Tischgenosse, sondern er stellte sich demütig hinter den Sessel des Herrn Prinzipals und servierte in aller Unterwürfigkeit, hatte auch nicht das Herz, in Louis seinen alten Kameraden zu begrüßen – das geschah erst, nachdem das Essen vorüber, die Herren sich entfernt und er das Speisegeräte wieder abgetragen und den Tisch in Ordnung gebracht hatte. Da erfuhr nun auch Louis von ihm, wie hart seine Lage, und sah es an den hochaufgeschwollenen, roten, mit offenen Frostbeulen besetzten Händen, und als er ihm des Herrn Speck lackierte Stiefel zeigte, die er jeden Morgen zu glätten, und die Salz- und Farbfässer, die er auszuklopfen hatte – so nahm der gute Louis, noch während Herr Sprößer sein kleines Geschäft mit Herrn Speck im Comptoir abmachte, den Reißaus, wanderte über die Mainbrücke ohne Sack und Pack, mit ein paar Gulden in der Hosentasche, und kam zwei Tage früher als Herr Sprößer zu Fuß und ganz erschöpft unter den Arkaden zu Ludwigsburg an. Den ersten Hunger ließ er sich von dem Hökerweibe, das immer der Oberamtei vis-à-vis an der Bischöfischen Apotheke mit Bäckerwaren und Obst saß, auf Rechnung der Mutter stillen und wollte lange sich vor dem Vater nicht zeigen, als ihn die vorübergehende Frau Bürgermeister Kommerell erblickte, ihn über seine Reise verhörte und die ganze Geschichte nun eilends dem Vater hinterbrachte, der über den Erfolg, den er bezweckt hatte, sehr froh war und nur den Herrn Sprößer bedauerte, von dem schon ein lamentabler Brief vorausgeeilt war, mit der Nachricht, daß ihm der Herr Louis in Frankfurt auf einmal entkommen sei.

Die Vakanz war gerade aus, und Louis kehrte mit den besten Vorsätzen wieder in das Stift nach Tübingen zurück. Von da an sprach er auch nicht mehr davon, das Studium der Theologie verlassen zu wollen, bis durch die immer größer werdende Aufreizung, die die Französische Revolution dazumal in alle Gemüter, besonders auch in die der Jugend, brachte, ein neuer Aufruhr in ihm entstand.

Er war von Bewunderung seines Bruders Georg stets durchdrungen, staunte ihn hoch an und wünschte nur immer, auch ein freier Weltbürger werden zu können. Er schrieb ihm oft nach Paris und klagte über den Vater, der den Geist der Zeit nicht zu fassen wisse. »Hier im Stift (schrieb er ihm) wird die ganze Größe der Französischen Revolution schon lang begriffen. ›Die Erde rauche von Tyrannenblut‹, das ist aller Losung; in dreifarbigen Kokarden reisen wir in die Vakanz, und ›Vive la liberté!‹ ruft der eine, begegnet er dem Freunde, und dieser antwortet: ›Vive la Nation!‹« Dem Vater aber schrieb er: »In dem Kerker dieses theologischen Stiftes schmachte ich nicht länger mehr. Die Zeit ist herangekommen, wo ein jeder ein freier Weltbürger ist. Ich habe mir einen Büchsenranzen gekauft, in diesen werde ich Kants Schriften packen und mit ihnen nach Paris wandern. Haben Sie was dagegen, so verstehen Sie den Zeitgeist nicht. Vive la liberté, vive la Nation!«

Die Antwort des Vaters war: »Du bist ein lächerlicher Junge. In Paris würde es Dir ergehen, würdest Du die Köpfmaschine sehen, wie es Dir in Frankfurt erging, als Du Herrn Specks schmutziges Ölfaß sahest. Jedenfalls meine ich, Du solltest, ehe Du in Paris einziehest, auch noch etwas mehr Französisch lernen als: Vive la liberté, vive la Nation!, und dabei würde ich den Kant lieber zu Hause vornehmen: denn in Paris möchten sie Dir keine Zeit dazu lassen und Dir Deinen leeren Kopf, noch ehe er sich mit Herrn Kant angefüllt, herunterschlagen. Du bist ein fauler Geselle, der keine harte Bretter bohren will. Den Büchsenranzen, den Du erkauft, will ich bezahlen, lege Dir ihn jetzt nur beim Studieren als das fehlende Sitzleder unter.« Das war eine Abkühlung, deren der gute Louis aber nicht bedurft hätte, denn es war mit der Wanderung nach Paris nicht so ernst. Noch ehe der väterliche Brief an ihn kam, hatte ihn die gute Mutter bereits wieder durch eine Sendung Kuchen fürs schwäbische Vaterland gewonnen. Wie er sich durch das Älterwerden abkühlte und ein sanfter Hirte christlicher Herden wurde, auch geliebt von allen, die ihn kennenlernten, wird man später erfahren.