Justinus Kerner

Das Bilderbuch aus meiner Knabenzeit
Mein Leben zu Maulbronn. Seine Lehrer, seine Kreuzgänge und Klosterkirche


Zwischen Ludwigsburg und Maulbronn war nun eine große Verschiedenheit; dort die langen, weiten, lichten Straßen, die künstlichen Alleen, Schloßgebäude und Soldaten, alles in neuem Stile, kaum etwas über 60 Jahre alt. Nun ein Kloster aus dem 12. Jahrhundert, rings umgeben mit hohen Mauern, einem Zwinger, über den eine Zugbrücke in dunkle Torgewölbe führte, in den Räumen innerhalb der Mauer selbst gar keine Wohnung als die der Beamten und das Prälaturgebäude, an welches das Kloster selbst, das nun die Wohnung junger theologischer Zöglinge war, grenzte. Statt der Ludwigsburger, weiß und gelb angestrichenen, wie von einem Schreiner gemachten Kirchen und Türme – erblickte man hier vom Alter schwarzgraue Kreuzgänge und eine Kirche, die in ihrem Innern, besonders für die Phantasie eines Knaben, große neue Rätsel darbot.

Merkwürdig war bei jedesmaligem Geläute der Turm, der auf dieser in Form eines Kreuzes gebauten Kirche sich schlank und leicht aus dem Dache erhob und durch die Erschütterung der Glocken sichtbar hin und her wankte. Baumeister gaben diese Erscheinung als einen Beweis seines kunstreichen, festen Baues an.1) Wohl sah man in diesem Kloster und seinen Gängen keine Zisterzienser, wie in seiner Vorzeit, mit weißen und schwarzen Kutten mehr, aber viele, oft durchaus nicht klösterlich aussehende, lebenslustige Jünglinge, jedoch auch nach alter klösterlicher Weise mit langen, schwarzen Kutten bekleidet.

Um in Wälder und Felder zu kommen, hatte man nicht mehr lange Gassen und Alleen zu durchgehen; das Kloster war in einen engen Grund gebaut, und über ihm ragten schöne Berge mit Weinreben und üppigen Wäldern. In seinem Umkreise befanden sich etliche und 30 Seen, reich an Fischen und Geflügel aller Art.

Ich hatte nun das 9. Jahr erreicht, mein Wachstum war sehr schnell, mein Körper sehr zart gebaut und nervös. Bald nach unserer Ankunft traf mich auch ein großer Unfall. Es war für mich alles neu, und so auch die Bereitung des Weines. Es war Herbst, die Trauben wurden von den nahen Bergen in die Klosterkelter gebracht, ich ging dahin, um diesem Geschäft zuzusehen, wollte auch die Maschine der Presse näher betrachten und stieg verwegenerweise und auch von niemand gewarnt auf den sehr hochliegenden Kelterbaum.

Wie es geschah, weiß ich nicht, ich stürzte herunter und blieb ohne Bewußtsein auf dem Boden liegen. Ein herbeigeeilter Arbeiter trug mich für tot nach Hause; die Mutter legte mich zu Bett, machte mir kalte Umschläge auf den Kopf, alles hinter dem Vater. Des andern Morgens kam ich wieder in einen bessern Zustand, aber nicht zu einem klaren Bewußtsein, sprang aus dem Bette durch alle Zimmer, stellte mich dort jedesmal vor den Spiegel und rief: »Wer bin ich? Wo bin ich? Was bin ich?« Dieser Zustand dauerte acht Tage lang an. Ich glaube nicht, daß man mir einen Arzt gebrauchte. Damals waren Ärzte nicht so in der Mode, und der Klosterarzt hatte seinen Sitz mehrere Stunden vom Orte in Vaihingen. Es wurde bloß ein Chirurg zur Hülfe gezogen und ich mehr noch der Kraft der Natur überlassen, die mich auch bald wieder zu meinem völligen Bewußtsein aus der Hirnerschütterung, die ich erlitten, brachte.

Hier waren der Gegenstände zu viele, es war das Neue dieser alten Klosterräume, die vielen Seen mit ihren Fischen, die nahen Weinberge mit ihren Trauben, der das Kloster umgebende Zwinger, der zur Oberamtei gehörte – als daß meine Phantasie sich nicht mächtig nach außen hätte beschäftigen sollen. Der Zwang der Schule war auch weg. Es befand sich für mich keine Schule im Kloster, ich erhielt den Unterricht in alten Sprachen, Geographie, Geschichte usw. von den ausgezeichnetsten der ältern Zöglinge des Klosters, und unter denselben waren auch wirklich vortreffliche Jünglinge. Ich nenne von denselben die Theologen Pregizer, Klaiber (nachherigen Prälaten und Konsistorialrat), Kratz etc. Auch der alte Professor Mayer, der eine Nichte meines Vaters zur Frau hatte, gab mir neben diesen Unterricht in der lateinischen und griechischen Sprache.

Mein Vater selbst war in seinen Erholungsstunden, die er sich dadurch in Wahrheit wieder zu einem neuen Geschäft machte, sehr bemüht, mich in der Geographie und Arithmetik weiterzubringen. Es ist zu bedauern, daß hauptsächlich die Sprachen meiner Phantasie Langeweile machten, daß ich nicht aus innerer, eigener Lust mitarbeitete, wie es später mehr geschah, und daß ich diese Lehrstunden lange Zeit nur als einen lästigen Zwang betrachtete. Dadurch machte ich meinem guten Vater manche Sorge und Verlegenheit. In unserem Haushalte waren nun auch im Vergleich mit Ludwigsburg große Veränderungen eingetreten. Mein Vater mußte eine große Ökonomie führen und hatte von dem vorigen Beamten, Hofrat Rümelin, einen Stall voll Schweizerkühe, zwei Pferde und einen großen Garten, eine halbe Stunde vom Kloster gelegen, übernommen. Seine Lieblingsbeschäftigung in freien Stunden, die Baumkultur, wurde nun in größerem Stile fortgesetzt. Dazu gab ein rings um das Kloster gelegenes Gut die beste Gelegenheit.


Dieses Schwanken des Turmes wurde in späteren Jahren, besonders nachdem eine schwere Glocke eingesetzt worden war, immer stärker und bedenklicher, bis es durch die Fürsorge des Herrn Kreisbaurats Abel, des verdienstvollen Conservateurs dieses merkwürdigen Klostergebäudes, behoben wurde.