Justinus Kerner

Das Bilderbuch aus meiner Knabenzeit
Die alte Stiftungstafel des Klosters


Kamen Fremde in unser Haus, so wollten sie die Merkwürdigkeiten des Klosters sehen, und mein Vater, müde des Herumgehens, gab meine Schwestern, oft aber auch mich, ihnen zum Führer mit auf den Weg.

Als gewandter Cicerone führte ich sie meistens zuerst dahin, wo die Stiftungstafel des Klosters hing, deren Bilder mir auch jetzt noch, auf dem dunklen Grunde der Vergangenheit, leicht und bunt, wie die Bilder einer Laterna magica, im Gedächtnisse stehen.

Aus dem Schlüsselbunde des kurzen Professors wurde einer der schwersten Schlüssel geholt, und dieser öffnete die Türe zur Klosterbibliothek, in welche man auf dem Dormente, nah dem Tore, durch das man von dem Chore auf dasselbe kam, einging.

Es war eine hochgewölbte, übrigens nicht große Zelle, deren Bücherschatz von keiner Bedeutung gewesen sein soll.

Derselbe wurde aber auch in meiner Phantasie schon ohne weitere Betrachtung von jener alten Tafel überboten, die an den Wänden jener Zelle hing und in Bildern und in Versen, in Mönchslatein, in goldenen Lettern, Stiftung und Geschichte des Klosters enthielt.

Die Tafel hatte zwei Seitentüren, wie eine Altartafel. Auf der rechten nach außen war eine Waldwildnis abgebildet; in solcher erblickte man Räuber, die Wanderer plünderten und mit Schwertern und Dolchen niederstießen. Auf der linken Seitentüre nach außen sah man Zisterzienser in schwarz und weißen Kutten als Bauleute beschäftigt.

Einige behauten Steine und Balken, andere trugen Holz und Kalk herbei, noch andere waren in Aufführung einer Kirche begriffen. Diese als Maurer und Steinhauer schaffenden Mönche erweckten in mir immer eine große Teilnahme, und ich wünschte mir stets, ich hätte mit ihnen auch so mitschaffen können.

Auf der innern Seite der rechten Türe hielten ein Bischof und ein Ritter (Bischof Günther und Ritter Walther von Lomersheim) die Klosterkirche, ganz im Bilde, wie sie noch ist, der ob ihnen schwebenden Jungfrau Maria hin. Darüber standen die Worte:

»Laß dir dieses Opfer gnädiglich befohlen sein.«

Im Innern der linken Türe kniete der erste Abt des Klosters (Diether, 1148), und aus seinem Munde gingen die Worte: »Oh! Mutter Gottes, laß dir dieses Opfer empfohlen sein.«

Die goldene Schrift auf der Tafel selbst erzählte in Mönchslatein (das ich auf Anleitung des Professors einmal ins Deutsche, mein armer Gottfried aber ins Griechische und Hebräische übersetzen mußte), wie diese Gegend, in der nun das Kloster steht, vordem in großer Waldwildnis lag, nur von Räubern bewohnt, so daß in ihr kein Friede war, keine Glocke erklang, nur Schwertergeklirr und Notruf der Beraubten und Halberschlagenen. Da faßte der edle Ritter Walther von Lomersheim den Entschluß, gerade in diese Wildnis ein Kloster zu bauen. Der Klang von Glocken, der Gesang aus Klosterhallen werde die Räuber ferne halten, verwilderte Herzen erweichen und Gottes Frieden in diese Gegend bringen. Mit Geldsäcken zum Baue des Klosters beluden der Ritter und Bischof Günther von Speyer einen Esel mit dem Entschlusse, daß auf der Stelle, wo das Tier in jener Wildnis seine Last nicht weitertragen könne, der Bau des Gotteshauses unternommen werden sollte. Dies geschah an der Stelle, wo der sogenannte Salzbach entspringt.

Ich betrachtete noch oft den viereckigen Turm, unter dem man gleichsam wie unter einem Triumphbogen hindurchfahren mußte und der über seinem Eingange den am Bach oder Brunnen (Maulbronn) mit seinen Geldsäcken niedergefallenen Esel in Stein gehauen zum Wahrzeichen hatte.

Nun wurde diese Stelle der Wildnis zum Klosterbaue erkoren. Licht wurde in sie durch Ausrottung der Wälder gebracht; man legte Wege an, führte mächtige Quadersteine, den Felsen entrissen, herbei. Die schönen Kreuzgänge hatten sich schon gewölbt, Mönche waren herbeigeströmt, und schon legte man den ersten Stein zum Baue der Kirche – da erschienen auf einmal die Räuber, begehrten Stillstand des Baues und erklärten den Mönchen, sie seien fest entschlossen, wenn sie nicht mit dem Baue aufhörten, alles bisher von ihnen Gebaute niederzureißen.

Da trat ein schlauer Mönch zu ihnen und sprach, sie freundlich anblickend: »Oh! gebt euch doch keine Mühe mit dem Niederreißen; wir selbst wollen euch geloben, das Kloster nicht auszubauen.« Darauf ließen sich die Räuber einen Eid geben und ließen die Mönche inzwischen in Ruhe. Aber die Mönche bauten an der Kirche fort, als wäre nichts geschehen, und ließen nur im Schiffe der Kirche an einer Mauer links einen Quaderstein uneingesetzt und legten ihn zu Füßen der Mauer.

Nun klangen die Klosterglocken weit durch die Wildnis, und die Räuber, zornentbrannt, kehrten um, Rache an den eidbrüchigen Mönchen zu nehmen; diese führten sie aber an jene Stelle ihrer schönen Kirche, wo der Stein am Boden lag und oben noch einer fehlte, und sprachen zu ihnen: »Ihr sehet, die Kirche wartet noch jetzt auf ihre Vollendung und soll auf sie warten bis auf den Jüngsten Tag.« So sahen sich die Räuber von der List der Mönche bezwungen, sie konnten sie keines Eidbruches beschuldigen, wurden auch von der Schönheit des Baues ergriffen und bedachten sich auch wohl, daß ohne starke Beschützer all dies von ihnen nicht hätte geschaffen werden können; man sahe sie von nun an in diesen Wäldern nicht mehr.

Jener Stein am Fuße der Mauer, links von dem großen Altarkreuze, liegt noch da, und oben auf der Mauer, wo er hätte eingesetzt werden sollen, erblickt man eine zum Schwur aufgehobene Hand von Stein, unter welcher Insignien der Baukunst: Kelle, Winkelmaß und Spaten, eingehauen sind.