Justinus Kerner

Das Bilderbuch aus meiner Knabenzeit
Der Professor im Kamine


Der gute Professor Mayer hatte nicht mehr Zeit, seine weiße Zipfelkappe und Schlafrock mit dem schwarzen Magisterkäppchen und Frack zu vertauschen; sie überraschten ihn gerade in der Küche, als er sich mit seiner Ehehälfte Therese um die Schlüssel zur Speisekammer stritt, weil er aus dem Kamine die Schinken, die er dort nicht mehr für sicher hielt, in die Speisekammer bringen wollte, wozu er schon eine Leiter auf den unter dem Kamin stehenden Herd aufgepflanzt hatte. Als er aber nun durchs Küchenfenster die herannahenden Franzosen erblickte, warf er schnell den Schlüssel der Speisekammer in eine Wasserkufe, stieg in Angst und Verlegenheit, so schnell er nur konnte, auf der Leiter ins Kamin empor und rief noch mit halbgebrochener Stimme hernieder: »Sie nehmen mich als Geisel mit, darum kommen sie. Therese, ich sag Ihnen, verraten Sie mich nicht!« »Wie?« rief sie hinauf, »steigen Sie sogleich herunter, ich gehe nicht aus der Küche ohne Sie!« Da waren die Chasseurs schon in der Küche, sahen die Leiter auf dem Herde und fragten in gebrochenem Deutsch, was das bedeute, während einer an der Leiter zu rütteln anfing. Die Professorin gab zu verstehen, das sei, um ihnen Würste und Fleisch aus dem Rauche zu holen, rief auch ihrem sich zitternd an der Leiter haltenden Manne zu: »Kommen Sie nur mit den Schinken und Würsten herunter!« Da kam der kurze Professor in Zipfelkappe und Schlafrock auch langsam hernieder, indem er die Schinken und Würste (gleichsam als Fürsprecher für sich) vor sich vorausgeworfen hatte. Die komische Gestalt des Herabsteigenden machte das lustige französische Blut laut auflachen, sie hoben ihn auf ihre Arme, trugen ihn ins offen stehende Zimmer und setzten ihn unter Umarmungen und Verbeugungen in seinen Armsessel, den sie dann mit ihm an den Tisch trugen und ihm sowie der freundlich am Arme des Offiziers herbeigekommenen Ehehälfte zu verstehen gaben, daß sie gute Freunde seien und nichts mehr begehrten als nur Wein zu den Würsten. Frau Therese brachte aber nun nicht nur diesen, sondern sie fischte auch den Speisekammerschlüssel wieder aus der Wasserkufe, ließ ein Feuer auf dem Herde anzünden und bereitete in Eile die Schinken und Würste und anderes den Gästen zum fetten Mahle. Die Professorin spendete auch sonst immer gern mit reichen Händen zum Jammer ihres Ehegemahls, und sie beklagte nie den Verlust aus Kamin und Speisekammer, sondern nur den Verlust der Reinheit ihrer Stubenböden oder ihres Tischweißzeuges, was auch jetzt allein ihr sehr schmerzlich war.