Justinus Kerner

Das Bilderbuch aus meiner Knabenzeit
Der St.-Michaels-Berg


Die Gegend von Brackenheim bot viele romantische Punkte zu Spaziergängen und Wanderungen dar, und oft machten wir zum Ziel derselben den Michaelsberg mit seiner alten, dem Erzengel Michael geweihten Kirche und seinem Kapuzinerhospize. Die Aussicht auf diesem Berge erstreckt sich besonders gegen die Gaue des Neckars und die lange Reihe der Schwäbischen Alb.

Hier erblickt man eine Menge von Städten, Dörfern und Burgen; aber noch mehr als diese Fernsicht erfreuten mich immer die zwei alten, langbärtigen Kapuziner in ihren kleinen, mit Blumen und Bildern geschmückten Zellen oder in ihrem Klostergärtchen, wo sie die schönsten Blumen anpflanzten, die mir ein Heimweh nach meinen im Kloster Maulbronn zurückgelassenen Blumen erregten. Das Innere der Kirche zeugte von hohem Alter; denn es fanden sich mehrere Säulen in ihr, deren Kapitäle römischen Ursprung verrieten; ja sie soll ein Tempel der Luna gewesen sein; denn man will in ihrer Nähe früher einen Mondaltar gefunden haben.

Die Kapuziner aber waren lustige Brüder, wozu ihnen der rebenreiche Berg wohl Veranlassung gab, auch die vielen frohen Gesellschaften, die von nah und fern bei schöner Frühlingszeit, statt der ehemaligen frommen Wallfahrten, auf diesen Berg wanderten und auf seiner Höhe sich mit Spielen und Tanzen, Essen und Trinken belustigten. Die Kapuziner mit den grauen Bärten und braunen Kutten machten da oft wacker mit, so daß der Hirtenknabe im Tale wohl füglich hinaufsingen konnte:

»Dort oben auf dem Hügel,
Wo die Nachtigall singt,
Da tanzt der Einsiedel,
Daß die Kutt' in die Höh' ihm springt.«

Man sagt, auf diesem Berge habe der heilige Bonifatius mit dem Teufel einen Zweikampf gehabt, in welchem ihm der Engel Michael zu Hülfe gekommen; dabei habe der Engel eine Feder aus seinem Flügel fallenlassen, dieser habe der Heilige dann eine Kirche hier gestiftet und zu Ehren Michaels eingeweiht. Die Feder, die lange Zeit in der Kirche bewahrt wurde, soll zur Zeit der Reformation von da weggekommen sein; man sagte, es habe sie ein alter Stadtschreiber aus Stuttgart, der von der katholischen zur lutherischen Kirche übergegangen, heimlich an sich gezogen. Vergebens baten die Mönche des Berges bei Herzog Ulrich um die Bestrafung des Stadtschreibers und Zurückgabe der heiligen Feder; sie erhielten keine Genugtuung. Darob in Zorn entbrannt, habe der Erzengel Michael die Strafe der Vielschreiberei über Württemberg ausgeschüttet.

In spätern Jahren, als Student, besuchte ich einmal mit meinem Freunde, dem Dichter Ludwig Uhland, diesen Berg.

Es waren schöne Herbsttage, und Uhland rief mich damals in einem Briefe mit folgenden Worten aus Stube und Haus: »Welch herrliches Herbstwetter! Es ist, als riefe der Gott des Jahres uns zu: Kommt herbei, die ihr nicht genossen des Frühlings, des Sommers arkadische Freuden, denen umsonst der Baum geblüht, die Rose geduftet! Die Halle meiner Freuden soll euch nicht ganz verschlossen werden, bevor auch ihr euren Teil davongetragen. Noch einmal schlag ich auf meinen blauen Himmel! Noch einmal laß ich meine Sonne herrlich leuchten. Meine Trauben sind reif, meine Weingärten geöffnet! Eilet herbei, die Zeit ist kostbar! Ersetzet, was ihr versäumt! Die ihr im Mai nicht von Liebe gesprochen, sprechet jetzt. Auch euer Liebchen rufe ich noch einmal in den Garten. Mädchen und Jünglinge! lebet und liebet!«

Wir hatten von Ludwigsburg an miteinander die Wallfahrt nach dem Michaelsberge angetreten. Als wir uns dem rebenbekränzten Berge nahten, tönten uns aus den offenen Toren der Kirche Gesang und Orgelklang entgegen. Wir traten in sie in sehr frommer, romantischer Stimmung ein. Da hörten wir einen der Mönche das Evangelium in deutscher Sprache absingen. Mehrmals kamen in diesem Gesang die Worte vor: »Und als sie aßen von den Früchten des Weinstocks«, allein der Mönch sang, sooft diese Worte vorkamen, immer statt »des Weinstockes« »des Schweinstockes«. Dadurch wurden wir in aller romantischen Andacht gestört und brachen endlich in ein konvulsivisches Gelächter aus, das uns die Kirche eilends zu verlassen nötigte, um nicht die Andacht anderer zu stören.

Die romantischen Burgen von Stocksberg und Neipperg waren hier auch oft das Ziel unserer Wanderungen.