Justinus Kerner

Das Bilderbuch aus meiner Knabenzeit
Die magnetischen Träume und die allmähliche Genesung


Die Frauen hatten nichts Eiligeres zu tun, als mich auskleiden und ins Bett bringen zu lassen, wo man mir, noch ehe man mich allein ließ, ein paar Tassen Hopelpopel anzwang. Mein Bett stand nächst einem Fenster, das zu der schönen, alten Kirche am Markte und ihrem künstlich erbauten, vielfach durchbrochenen Turme, auf dessen Spitze ein Ritterbild stand, sah. Der Sturm hausete besonders von diesem Turme her in den sonderbarsten, schauerlichsten Tönen; denn an verschiedenen Seiten des Turmes waren Schallöcher angebracht, die, wenn der Sturm in sie blies, schauerliche Töne stoßweise über die ganze Stadt verbreiteten. Von Blitzen erleuchtet, standen Turm und Kirche bald in Feuer, wie auf Goldgrund mit ihren schwarzen Umrissen, bald verschwanden sie wieder in die finsterste Nacht. Als aber die Wolken sich entleert hatten, trat der Mond an den reinen Himmel, und Kirche und Turm standen in einer Schönheit vor mir, wie ich Gebäude der Art noch nie sah. Lange verweilte mein Blick auf ihr und spielte meine Phantasie mit den schönen Umrissen des Turmes mit seinen Steingebilden, grotesken Köpfen von Tieren und Menschenfratzen, die als Köpfe von Rinnen aus ihm ragten, und mit seiner künstlich durchbrochenen Wendeltreppe, die sich um ihn fast bis zu seiner Spitze mit dem auf ihm stehenden Ritterbilde schlang. Die vom Monde erhellten Kirchenfenster malte ich mir in Gedanken selbst mit den buntesten Bildern aus. Nach und nach gingen aber alle diese Bilder mit mir in Schlummer und Traum über. (Und nun sei mir erlaubt, hier das erste Mal in diesen Blättern Dichtung mit Wahrheit zu verbinden und den Traum, den ich da von dem auf dem Turme stehenden, altdeutschen Bilde, von meinem Bruder Georg und von den Bildern auf den Fenstern der Kirche hatte und der mir in völliger Klarheit nicht mehr erinnerlich ist, so wieder zu träumen.)