Justinus Kerner

Das Bilderbuch aus meiner Knabenzeit
Meines Vaters Erkranken


Mein Bruder Georg fand das Aussehen des Vaters sehr verändert. Die so kräftig gewesene Gestalt schien ihm mehr zusammengefallen, das feurige schwarze Auge mehr erloschen, er äußerte gegen den Bruder Carl seine Besorgnisse und war mit großem Herzeleid geschieden.

In der Tat hatte auch mein Vater schon seit einem Jahr zu kränkeln angefangen, und das Leiden stellte sich immer mehr heraus.

Es war ein chronisches Leiden des Magens, es bildete sich eine Verhärtung am Magenmunde, die bald keine Speise mehr in denselben ließ, wodurch auch häufiges Erbrechen stattfand. Meine Mutter war unermüdet in der Pflege ihres Gatten, und meine Schwester Wilhelmine wich auch wenig von seinem Lager, denn sie machte des Vaters Sekretär und Vorleser. Viele Ärzte wurden zu Rate gezogen, zuletzt auch wieder jener russische Arzt zu Heilbronn, der es abermals an Anraten seines Hopelpopels nicht fehlen ließ; allein es trat Zehrfieber und völlige Abmagerung ein. Es war für mich betrübend, nun allein zu meinen Blumen und zu des Vaters verlassenen Bäumen wandern zu müssen; im Hause und in den Gärten gestaltete sich alles trübe, die alten Rappen wurden verkauft, und auch Matthias verlor seinen Mutwillen und Scherz; denn er glaubte nicht anders, als er werde nach jener Prophezeiung des Esels gewiß in diesem Jahr auch ans Ende seines Lebens kommen.

Des Vaters Aussehen machte mich entsetzlich bange; ich fürchtete, mich ihm zu nähern, und sah nur oftmals von der nahen Klostermauer, die einen bedeckten Gang hatte, verstohlen in das Zimmer, wo sein Krankenlager war, hinein. Von Arzneiflaschen umgeben, lag er da bleich und zum Gerippe abgemagert im Bette und meine Mutter oft an demselben knieend und betend.

Ein jeder neu ankommende Arzt machte mir nur Angst, und ich floh in den Klosterzwinger zu meinen Blumen oder den Bäumen meines Vaters, die mir aber auch bald wieder bange machten, so daß ich oft von ihnen wieder auf die Mauer zurückkehrte und heimlich in das Krankenzimmer blickte, zu sehen, was da vorging.

Als ich eines Abends so einmal (es war schon Dämmerung) von der Klostermauer in das Fenster des väterlichen Krankenzimmers sah, sah ich mich auf einmal ganz deutlich selbst im Zimmer. Ich sah mich knieend vor dem Bett des Vaters und hatte seine gelbe, abgemagerte Hand in der meinigen. Ich blickte auf den Vater; sein schwarzes Auge sah mich verklärt an. Da faßte ich Mut, ich eilte wirklich zum Zimmer, ich fand meine Mutter vor des Vaters Bette im Gebete, meine Gestalt sah ich nicht mehr, aber nun kniete ich auch nieder und faßte seine Hand, und er blickte mich, wie ich es vorhin gesehen, verklärt an. Von da an trat ich öfters ins Krankenzimmer selbst, hatte meine Angst vor dem sterbenden Bilde überwunden, und mein Vater wurde auch freundlicher gegen mich, denn er hatte mein seltenes Erscheinen bald für Mangel an kindlicher Liebe gehalten, was es doch nicht war.

Mein Unterricht wurde, da die Aufsicht des Vaters fehlte, wieder lässiger betrieben, und ich fiel wieder mehr der Natur anheim. Damals aber legte sie ihre Sehnsucht, ihre Wehmut in mich, und mit ihnen die Poesie.

Während der Krankheit meines Vaters kam mein Bruder Carl öfters zu uns nach Maulbronn. Er war damals Lieutenant unter der Artillerie des Schwäbischen Kreises, die zu Ludwigsburg stationiert war. An Geist wie an Körper war er zum liebenswürdigsten Jüngling herangewachsen, und durch den festen Charakter und die Besonnenheit, die er schon frühe zeigte, war er meinem Vater sehr teuer, und er ahnete mit Freuden in ihm schon damals die einstige Stütze seiner Hinterbliebenen, was er auch im vollsten Maße wurde.

Für diesen Bruder hegte ich auch schon damals große Achtung und Liebe, obgleich auch unser Wesen wieder sehr verschieden voneinander war. Er war Verstand und Mathematik, ich bloß Gemüt ohne alle Berechnung. Meine poetischen Versuche traf schon damals oft sein Spott, und in solchem hieß er mich oft den Dichter Kotzebue, welcher Name zugleich eine Anspielung auf meine frühere Krankheit sein sollte. Aber er meinte es immer durchaus liebevoll und rechtschaffen, und ich folgte ihm auch in allem gern, selbst seinen Anmahnungen, mich auch hinter die Zahlen und geometrischen Gleichungen zu machen, was mir gewiß sehr schwer fiel und gegen meine Natur war.