Justinus Kerner

Das Bilderbuch aus meiner Knabenzeit
Mein Bruder Georg in Italien


Die Jahre 1798 und 1799 hatte mein Bruder Georg in Italien zugebracht und war vom Minister Reinhardt zu vielen wichtigen Aufträgen und Sendungen verwendet worden. Als Kommissär des französischen Gouvernements hielt er sich längere Zeit in Florenz auf, wo sich seine Geschäfte auf die damaligen Angelegenheiten Toskanas bezogen. Bei einem Gefechte gegen die Insurgenten, das er nur aus Liebe für Gefahren mitmachte, erhielt er damals einen Säbelhieb über die Schulter.

Eine Sendung bekam er auch ins Hauptquartier des Generals Bonaparte, wo er von diesem zu Tisch geladen wurde. Es ist sehr merkwürdig, daß er nach der Zurückkunft von ihm in sein Tagebuch, was noch in solchem zu lesen ist, folgendes schrieb:

»Großer, von Europa und der Nachwelt besungener Held! Auch du bist worden nichts, und wirst werden nichts, als ein Mensch, der nicht getan hat, was er hätte tun können, und nicht geworden ist, was er der ganzen Menschheit hätte werden können!« –

Dennoch wäre er mit Bonaparte im Jahre 1798 gern nach Egypten gezogen. Die Sache war auch bereits durch Bourienne oder General Championnet eingeleitet, und Bonaparte wollte ihn mitnehmen, als Reinhardt ihn bewog, den Gedanken aufzugeben.

Auf einer Reise durch Italien begleitete er Bonapartes Schwester, Pauline, damals noch Generalin Leclerc.

Von seinem Aufenthalte in Italien vom Jahre 1799 schreibt sich nachfolgender Aufsatz von ihm:

»An den Ufern des Anio

Langsam zieht sich der Anio zu den Füßen von Tivoli hin, endlich bricht sich sein Bett, und ein Felsenbecken empfängt den stürzenden Fluß, der unter Donnergeräusch, in Wasserstaub aufgelöst, schäumend, als tobte in und unter ihm vulkanisches Feuer, von Felsen zu Felsen, von Abgrund zu Abgrund stürzt, durch gesprengte Massen, durch Höhlen, die sein tausendjähriger Strom bildet, sich in immer furchtbareren Wogen niederwälzt, bis er endlich eine ruhigere Bahn findet. Gegenüber von dem ersten Fall sind kleine Wasserfälle, die zu der Größe der Szene das Malerische hinzufügen. Über Felsenspitzen und Gestein hinweg an der moosbewachsenen Felsenwand stürzen sie sich in die wilden Fluten des Teverone.

Nach seinem ersten Falle geht der Strom durch Felsenritzen und über Felsengrund und strömt endlich in die Grotte Neptuns. Von diesem schwebenden Abgrund stürzt er auf ein Steinbette und vereinigt sich hier mit einer zweiten Wassermasse, die von der Höhe Tivolis aus einem engen Felsenschlund hervor, wie ein wilder Jüngling, in den Abgrund springt. Die Sonne schien gerade in die Kristallwolken von Wasserstaub, und zwischen diesen Gegenständen des hohen Entsetzens schwebte des Regenbogens sanfteres Bild.

Auf dem Felsenbette, umringt auf allen Seiten von schroffen Felsenwänden, bricht sich der wilde Sturz, und schon beginnt ein sanftes Hingleiten über den breiten, abgeglätteten Steinboden, als ein neuer Fall auch neues Toben, neues Donnergeräusch erzeugt. Furchtbar wütet der Strom, seine Wogen scheinen vor dem Anblick des zweiten Abgrundes sich rückwärts gegen die Felsen zu bäumen, von denen sie herabgestürzt waren. Vergeblicher Widerstand! Neptun schickt die folgende Woge, und der Strom stürzt in die Grotte der Sirenen und aus diesem Schlunde der Finsternis in felsichtes Bette, das zwischen den Gebirgen sich hinzieht.

Bei der Grotte der Sirenen, hart an dem Abgrund, maß mein erstauntes Auge bald die furchtbare Höhe, bald die hohe Felsenwand, die in dem Vordergrund an der Grotte Neptuns gegen Tivoli und dem Tempel der Vesta emporragt. Die ganze große Naturszene beherrscht dieser Tempel, den Göttern zum hohen Wohnsitze geschaffen, gemacht, um zur Anbetung zu stimmen, Gefühle hervorzurufen, die den Busen schwellen, das Herz mit Kraft erfüllen und die Seele zu verwegenem Fluge beflügeln.

Ein anderer Teil des Teverone, der um die Stadt geleitet wird, um Mühlen und Fabriken das nötige Wasser zu geben, stürzt nicht fern von der ehemaligen Villa Mäzens in silbernen Wasserbogen, von italienischem Grün und den Reichtümern der Ceres umlagert, über bemooste Felsen mit sanfterem Geräusch herab und strömt zwischen Bäumen, Gebüsch und Wiesengrund, seine Melodien in den Gesang der Nachtigall mischend, dahin.

Wenige Schritte von dem Ponte Lupo bietet die Quelle der Blandusia dem ermüdeten Wanderer Labetrunk mit der Erinnerung an Horazischen Gesang. Sie schützt nach oben ein Gewölbe, Reste eines der Nymphe geheiligten Tempels, vor den erwärmenden Strahlen der Sonne, von der Seite spiegelt dichtes Gebüsch sich in der zitternden Silberquelle. Alle diese hohen Szenen der Natur werden von dem malerisch liegenden Tivoli beherrscht, das hoch auf dem Gebirg in schönen Gruppen dem Auge frohen Genuß gewährt.

Der Weg von Tivoli an den Kaskadellen vorüber nach dem Ponte Lupo führt über die Trümmer der Villa von Cicero, Cassius und Brutus, von Horazius, von Quintilius Varus. Gegenüber, auf der andern Seite, erheben sich noch stolz die Trümmer der Villa Mäzens. Da, wo der Günstling Augusts einst horazischen Weihrauch atmete, tönt jetzt des Hammers schallender Schlag aus der Mühlen Klappergeräusch. Da, wo einst Zyperwein aus goldenen Pokalen strömte, fließt jetzt des Werkmanns Schweiß unter der Arbeit Last. Hier, wo jetzt die Pflugschar bemooste Steintrümmer in die Erde drückt, diesseits des Stromes, im Schoße der schönen Natur, stärkte sich Cicero zum Kampfe gegen catilinarische Kühnheit. Hier auf dieser andern Stelle sangen Tibull und Catull. Hier lebte den Musen der vaterländische Horaz, und über diesen Trümmern erhob sich einst die Villa des Quintilius Varus, des Zeugen germanischer Kraft, als sie den Kaisersadler in seinem hohen Fluge ergriff und blutend zur Erde schleuderte, daß der furchtbare Fall aus dem Auge Augusts Tränen des Schmerzes erpreßte. Hier endlich wandelten bei nächtlichem Dunkel und Regenschauer Brutus und Cassius. Hier heiligte die letzte Flamme römischer Freiheit den Dolch, der Cäsars Brust durchbohrte.

Auf dieser der Geschichte geheiligten Stätte traf ich vor Jahren zuerst mit dem Helden zusammen, dessen Name mit allem Fuge auch der Geschichte dieses Landes angehört, dessen Charakter Roms schönsten Jahrhunderts würdig war, der, wie keiner der fränkischen Feldherrn, so viel Sinn für Vereinigung der italienischen Völker in eine unabhängige Nationalmasse hatte, mit Joubert, dem Unvergeßlichen. Im Austausch unserer Gefühle wandelten wir hier lange unter den Trümmern vergangener Größe dieses Volkes, aber schon damals glaubt' ich in ihm jene Züge zu erkennen, denen das Glück nur selten entgegenkommt. Es war eine beklagenswerte Leidenschaft, die Liebe seiner Schwester, die ihn in die militärische Laufbahn warf. Die Unglückliche liebte ihn mit aller Glut verbotener Liebe, und als er sich geflissentlich von ihr entfernte, fiel sie in eine Krankheit und starb. Er suchte nun auf einer geschäfts- und geräuschvollen Bahn Zerstreuung und fand Ruhm und Lorbeeren. Schmerzvolle Eindrücke aber blieben stets in seiner Seele zurück, und nie durfte man in seiner Gegenwart von Liebe sprechen, ohne daß sich tiefe Melancholie seiner Seele bemächtigte. Schon zu Mantua sagte mir nach geraumer Zeit, vor Jouberts Entlassung, der General M., Joubert werde nicht lange mehr bei der Armee bleiben, das Direktorium könne sich nur mit Menschen vertragen, deren Raub- und Gewaltsucht, mit feiger Unterwürfigkeit gepaart, den Herrschern ein Motiv der Sicherheit werde. Militärischer Ruf, mit Bürgersinn und Bürgertugend vereinigt, sei diesen Menschen ein Gegenstand des Mißtrauens oder der Furcht; Joubert werde sich nicht erhalten, und schon arbeite man von Mailand und Paris aus gegen ihn. Ich sah seine Äußerung für übertrieben an und mußte mich am Tage, da Joubert seine Dimissionsannahme erhielt, nur allzusehr von ihrer Gründlichkeit überzeugen. Ich war gerade an diesem Trauertage bei Joubert. Er hatte dem Exdirektor Merlin in einem Schreiben seine Meinung frei und offen mitgeteilt; Merlin hatte ihn dazu eingeladen, ihm seinen Glauben an einen entschiedenen Einfluß des Auslandes auf die Verhandlungen des Direktoriums nicht verschwiegen und sich mit edelm Unwillen gegen die beispiellose Behandlung der italienischen Völker erklärt, gegen ihre anhaltende Beraubung, Isolierung und gegen ihre Herabwürdigung durch verhaßte Prokonsuls. Man hatte ihm unumschränkte Vollmacht über seine Armee verheißen, und von dem Tage seiner Ankunft an arbeitete ihm Furcht, Neid und Eifersucht aus Paris entgegen. Da man ihn selbst nicht anzugreifen wagte, so wurden die Pfeile gegen die Personen abgedrückt, die ihn umringten. Man verlangte Suchets Entfernung, den er als seinen Chef vom Generalstab für unentbehrlich hielt, dem er sein Zutrauen geschenkt hatte und dessen Wert er besser beurteilen konnte als dieses Direktorium auf seinen weichen Polstern im unseligen Palaste von Luxembourg. ›Ich verlasse‹, sagte er mir, ›die Armee in einem Zustande, dem die Russen und Österreicher in mehreren Monaten noch nicht gewachsen sein können. Wenn einst die Zeit der Gefahr kommen sollte, bin ich bereit, jedem Rufe zu folgen; jetzt trete ich mit der Überzeugung zurück, daß ein Land wie Frankreich Männer genug besitze, die noch bessere Dienste denn ich zu leisten vermögen; anders zu denken wäre unverzeihliche Eitelkeit.‹ – Zu Reggio sagte er mir dies; dort sah ich ihn zum letzten Mal, den großen Unvergeßlichen. – Am Tage der Schlacht von Novi hat er Wort gehalten. Auf den Ruf des bedrängten Vaterlandes war er dem Grabe entgegengeeilt, und der Tag seines Heldentodes war für die Feinde ein Sieg, blutig wie die blutigste Niederlage! – An dem Tage der Schlacht bei Novi floh der Genius der Freiheit von Frankreich.«

Als Sieyes ins Direktorium eingetreten war, berief er Reinhardt zum Ministerium nach Paris. Dieser reiste nun in Begleitung meines Bruders dahin zurück, und zwar zur See; denn seine Gattin fürchtete die Landreise.

Auf dieser Fahrt schiffte in kleiner Ferne ein englisches Schiff an ihnen vorüber. Hier beging mein Bruder in seinem fanatischen Hasse gegen die Engländer die Tollkühnheit, daß er beim Anblick der englischen Flagge sogleich in den Schiffsraum eilte und, ohne gegen irgend jemand etwas zu erwähnen, eine Kanone gegen das Schiff richtete, anzündete und die Kugel über die Flagge hinjagte.

Dieser jugendliche Übermut brachte nicht nur dem Gesandten vielen Verdruß (denn es war, wenn ich nicht irre, Waffenstillstand zwischen Frankreich und England), sondern zog auch meinem Bruder eine Disziplinarstrafe zu.

In Toulon mußten sie Quarantäne halten, in deren Ruhe mein unruhiger Bruder oft verzweifeln wollte. Er schlug am Gestade des Meeres ein großes Zelt auf, in dem er zum Zeitvertreib Schauspiele und andere Festlichkeiten veranstaltete. In demselben Jahr wurde er von Reinhardt von Paris nach Holland zu Brune ins Hauptquartier mit Aufträgen geschickt, wo er in seiner Lebendigkeit auch noch persönlich an einem Treffen der Franzosen gegen die Russen und Engländer, das während seiner Anwesenheit vorfiel, teilnahm und eine Verwundung durch eine Musketenkugel im Arm davontrug. Er hätte aber hier sein Leben noch auf eine andere Weise einbüßen können; denn als er nach seinem vollendeten Auftrage den kürzern Weg (die Kugel noch im Arme) zurückzunehmen gedachte, wäre er beinahe in den Dünen versunken.

Noch waren ihm in diesem und früheren Jahren mehrere Sendungen übertragen worden. Auf einem Blatte, das von seiner Hand beschrieben ist, finden sich noch flüchtige Notizen, aber ohne Jahrzahl; z. E. »Erste und zweite Reise nach Bremen, ohne weitere Bemerkung«, »Kongreß von Hildesheim, wohin Reinhardt mich sandte«, »Meine Sendung nach Berlin«, und hierbei steht:

»Unmittelbar nach Katharinas Tode sollte ich nach Rußland. Kaufleute von Hamburg interessierten sich dabei. Freier Verkehr zwischen russischen und französischen Häfen, durch Hanseaten betrieben, sollte der erste Schritt zur Versöhnung oder Annäherung zwischen Rußland und Frankreich werden. Das französische Gouvernement nahm keinen direkten Anteil an dieser Sendung. Hamburger Kaufleute gaben die Fonds, Reinhardt seine Zustimmung, allein Haugwitz keine Protektion. Ceillard, französischer Gesandter in Berlin, sah das Ganze als meinen Eingriff in seinen politischen Sprengel an.« –