Justinus Kerner

Das Bilderbuch aus meiner Knabenzeit
Mein Aufenthalt auf dem Comptoir der Tuchfabrik in Ludwigsburg


So wurde ich nun auf das Comptoir der damaligen herzoglichen Tuchfabrik in Ludwigsburg geschickt. Als ich hier als Lehrling eintrat, befanden sich daselbst schon mehrere ältere junge Leute als ich. Der älteste war ein Sohn meines ehmaligen Lehrers in Knittlingen, des Präzeptors Braun, namens Friedrich, dessen ich schon früher erwähnte. Er hatte sich bereits zum gewandten Comptoiristen und Reisenden gebildet und für die Fabrik, die mit ihren Waren die Messen von Bergamo und Sinigaglia damals häufig beschickte, schon mehrere Reisen in Italien gemacht. Von einer derselben brachte er aus Bergamo den Sohn eines reichen Kaufmanns, namens Gerosa, mit, der zugleich in Ludwigsburg die deutsche Sprache erlernen sollte.

Noch befand sich auf diesem Comptoir auch der reiche Sohn eines Kaufmanns aus Lahr, namens Martin, und ein Stuttgarter, namens Müller. Unter all diesen jungen Leuten herrschte das höchste Verderben. Braun war ein sehr schöner, junger Mann, gewandt in seinem Äußern wie auch in seinen Arbeiten als Kaufmann; er war vieler lebenden Sprachen, auch der neugriechischen, von der er später eine Grammatik in den Druck gab, mächtig und führte, wie ich schon früher bemerkte, eine ausgezeichnet schöne Handschrift. Bei Frauen und Mädchen spielte er den Galanten mit vielem Glück, uns aber unterhielt er meistens mit seinen in Italien verlebten skandalösen Liebesgeschichten. Dem Weine war er sehr ergeben, und umsonst schrieb ihm sein Vater in jedem Briefe Bibelstellen, die gegen die Völlerei sprachen. Sein Leben war später durch diese Leidenschaft, nach einer Verheiratung, die sehr glücklich hätte sein können und ihm Glücksgüter zuführte, sehr unglücklich; er starb frühe.

Der Italiener Gerosa sah schmutzig gelb, wie aus Seife geschnitten, aus, auch viel älter, als er war, hatte pechschwarze Haare und ebensolche Augen. Er war träge, weil sein Körper von Siechtum, das er wohl schon aus Italien mit sich gebracht hatte, aufgedunsen und schwerfällig war. Er war gutmütig, ließ man ihn ruhig, konnte aber, nur etwas gereizt, wie wütend auffahren und einen mit dem Federmesser oder der Schere, die gerade dalagen, durch das ganze Haus, den Tod drohend, verfolgen. In solcher Wut gaben seine Augen in den dunkeln Gängen oft Feuer, wie die einer Katze. Sein Siechtum nahm aber bald immer mehr zu, es brachen Geschwüre an seinem Halse und der Brust auf, er verließ noch vor mir das Comptoir und kehrte sehr zerrüttet nach Bergamo zurück.

Der junge Mann aus Lahr war eine ausgezeichnet langgestreckte, dürre Gestalt, sein Gesicht bleich, mit einer großen, vorn dicken Nase, die immer wie aufgeschwollen und mit roten Wärzchen besetzt war. Sein gelbes Haar hatte er in Locken frisiert und gepudert. Seinen Anzug erhielt er immer sehr reinlich und galant, und man sah ihn bald in eine Liebschaft verwickelt, die oft zu possierlichen, aber auch skandalösen Auftritten die Veranlassung gab. Auch er sprach von nichts als von Liebe und Wein. Ich weiß nicht, was nachher aus ihm wurde.

Der dritte, Müller mit Namen, aus Stuttgart, war ein äußerst schwacher Mensch, aber dabei auch der Eitelkeit und der Sucht, Frauenzimmern gefallen zu wollen, ergeben. Seine schwarzen Haare frisierte er alle Tage künstlich in krause Locken, zu deren Erhaltung er immer einen Spiegel und ein Haareisen bei sich trug. Er diente zur Zielscheibe des Witzes der andern. Sie schrieben ihm oft Briefchen, als wären sie von Frauenzimmern, die ihn zu Zusammenkünften beriefen; er begab sich an den bestimmten Ort, da fand er keine, wohl aber die andern in Frauenzimmerkleidern, die ihn neckten und sich endlich ihm zu erkennen gaben. Solange ich noch auf diesem Comptoir war, kaufte er sich von seinem kleinen Vermögen ein Quantum dürrer Pflaumen, von deren Verkauf in Amerika er sich große Reichtümer versprach. Er begab sich auch wirklich in dies von ihm geträumte Pflaumeneldorado und soll dort im Elend gestorben sein.

Der Direktor der herzoglichen Tuchfabrik und Herr des Comptoirs war ein durchaus rechtschaffner Mann, streng religiös, und schien in Herrenhuterischen Grundsätzen erzogen worden zu sein; allein er war zu gutmütig, zu schwach, er sah wohl das Verderbnis der ihm Untergebenen ein, hatte aber nicht den Mut, ihm abzuhelfen, besonders da ihm der erste Kommis Braun der italienischen Geschäfte wegen unentbehrlich wurde; und von dem Italiener und dem von Lahr bezog er ein gutes Kostgeld, das ihm sehr wohl bekam.

Häuslicher Kummer drückte ihn oft sehr darnieder; es wollte auch die Fabrik nicht den gehofften Aufschwung unter seiner Leitung nehmen, er wurde mißkannt, in Untersuchung gezogen und mußte erleben, daß die Direktion der Fabrik, während er noch bei ihr dienend beibehalten wurde, einem, den er als Kommis angenommen (es war dies in spätern Jahren), übergeben wurde, welcher, allerdings klüger als er, endlich die ganze Fabrik als Eigentum an sich brachte und sich durch Umsicht und Tätigkeit ein Vermögen sammelte. Beide sind nun tot.

Unter diese oben bezeichneten Menschen nun wurde ich damals gebracht. Ich mußte meinen immerwährenden Aufenthalt, meinen Kosttisch, meine Schlafstätte unter ihnen nehmen. Ich mußte ihre stets unsittlichen, faden Gespräche anhören; sie waren mir alle vorgesetzt, ich mußte mich von ihnen zu Geschäften anweisen lassen und durfte nie widersprechen.

Mein Hauptgeschäft im ersten Jahre bestand darin, daß ich von morgens bis in die Nacht, auf den letzten Sprossen einer Tuchleiter im Gewölbe sitzend, vor mir einen langen Tisch, auf welchem hohe Berge neu aus der Fabrik hergebrachter Tücher lagen, diesen Tüchern Säcke von farbiger Glanzleinwand zuschneiden und sie in dieselbe vermittelst Bindfadens und einer langen Nadel einnähen mußte. Hie und da wurde dieses Geschäft durch Verfertigung von Musterkarten und Kopieren der Briefe unterbrochen.

Es wäre mir diese Arbeit unerträglich geworden (denn sie war nicht besser als die Arbeit der benachbarten Züchtlinge; das Zuchthaus war auch mit dieser Tuchfabrik verbunden sowie das Irrenhaus), hätte ich mich nicht bald daran gewöhnt, bei dieser Arbeit an was ganz anderes als an sie zu denken. Meine Hände machten sie mechanisch fort, während ich Poesien aller Art dichtete, die ich mit Bleistift auf unter den Tüchern versteckte Blätter niederschrieb und in den Freistunden ins reine brachte. So entstanden ganze Bücher mit Versen, die ich teils verschenkte, teils dem Feuer übergab. Es erhielten sich nur noch wenige dieser Verse meiner frühen Jugend. So schwach sie sind, so bleiben sie mir immer eine Erinnerung, wie sie mir die für mich sonst unerträglich gewesenen Tage erträglich, ja angenehm machten.

Wie aber gerade Schmerz und Gram, wie eine drückende Lage, zum Witze und Humor stimmen, so waren meine poetischen Produktionen hier sehr oft scherzhaft und satirisch. Unter solche gehörte ein ganzes Epos im Blumauerischen Stile, das auch zu mutwillig war, als daß ich es nicht bald dem Feuer übergeben hätte; auch von den andern Produktionen der Art existiert nichts mehr.

Aber auch in Prosa ließ ich Satire und Humor aus. So war ich der Verfasser einer Mystifikation, die noch im Vaterlande von Hand zu Hand läuft und aus der gewisse Ausdrücke volkstümlich wurden. Sie wurde auch ohne mein Wissen und mit Beifügung eines Namens, den mein Original nicht enthielt, schon mehrmals gedruckt.

Diese Mystifikation bestand in einem angeblichen Schreiben eines verstorbenen, sehr ehrenwerten Mannes, der einen absonderlichen Stil hatte, den ich aber in meiner Dichtung soviel als möglich zu überbieten suchte. Ich hielt es für Pflicht, mich als den Verfasser dieses Schreibens zu bekennen, da das Publikum noch immer der Meinung ist, jener Mann habe dasselbe wirklich verfaßt, und ich erkläre hiemit öffentlich, daß er nicht den mindesten Anteil an demselben hat und daß dieses einzig ein jugendlicher Mutwille von mir war. Es hieß:

»Kammerrat und Keller X zu H., de- und wehmütigst Bericht erstattend von einem auf ihn eigenst angesehen gewesenen Tod- und Mordanschlag, als wie er nämlich von zwei oder zwölf verkappten und vermummten Unholden, das sogenannte Schweiß-, vulgo Schwitzgäßlein herzoglicher Geschäfte halber nächtlich passierend, mit einem Stab, vulgo Pfahlstumpen oder sonstigem vermummten Mordgewehr zu Boden gedrückt und wie ihm da der amtsgemäß seidene Haar- oder Zopfbeutel mit einem vergifteten Messer meuchelmörderischerweise vom Kopfe getrennt worden sei.

Euer herzoglichen Durchlaucht

habe ich untertänigkeitswegen de- und wehmütigst, von einer mich eigenst anbelangenden, fast höchst traurig, schaurig ausgefallenen Fatalitas, eiligst und kürzlichst benachrichtigen sollen.

Gestern als am Tage Oculi (Augensonntage) passierte ich herzoglicher Geschäfte halber, an nichts denkend, nächtlicherweile das dasige Schweiß-, vulgo Schwitzgäßlein, als plötzlich und pfeilschnell zwei oder zwölf vermummte und verkappte Unholden mit Stäben, vulgo Pfahlstumpen oder sonstigen Mordgewehren aus den Schweinsbeerenstengeln der dasigen Wege (der, inklusive gesagt, auch einer Reparation bedürfte, da er schon Anno 1789 in dem damaligen kalten Winter von der eingestürzten steinernen, Anno 1780 allhier verfertigten Weingartenmauer sehr ruiniert wurde) spitzbübisch, wie auch diebischer- und höchst meuchelmörderischerweise, eilends von hinten her auf mich losstürzend, mich respekts-, moralitäts- und religionswidrig auf den Rücken puffend zu Boden prosternierend duckten, mit ihren vier schwer bestiefelten Füßen, wie auf eine Schweins- oder Rindsblase, die man verpuffen will, aus aller Macht, Leibes- und Lebenskraft bleischwer auf mich hüpften und mir meinen amtsgemäß seidenen Haar- oder Zopfbeutel samt Zubehör mit einer Schere, Sense, Sichel, Beil, Rasiermesser oder sonst scharf geschliffenem und, was ich bang ahne, vielleicht gar vergiftetem Gewaltsinstrumente vom Kopfe trennten, mich sodann schachmatt und maustot auf obgenanntem, einer Reparation bedürfenden Wege, in einer von Kot besudelten Fahrgleise liegen lassend, eiligst von dannen stiefelten. Um nicht moralitäts- und religionswidrigst Menschenblut vergießend erfunden zu werden und bemeldte Unholden nicht vollends zu überstarrkopfen, verhielt ich mich bei dieser Fatalitas ganz leidend und passiv und gebrauchte von dannenhero auch nicht meinen schwer mit Messing beschlagenen Gehstab, den die untertänigst obbesagte Unholden oder Gau- und Meuchelmörder mir nebst meinem mit Silber beschlagenen türkischen Meerschaumrauchtabaks-Pfeifenkopfe frevelnd, aus den Händen windend, entrissen und mir nachher mit ihm, als meinem eigenen Gehstab, noch zwei Backenstreiche versetzten. Wer aber nun jene obgenannte zügel- und bügellose Unholden in Person sämtlich seien, konnte mir, aller Verhörungen unerachtet, nicht zu Gehör gelangen.

Euer etc. von dieser die ganze Welt empörenden, erschütternden und erbitternden wie auch höchst revolutionärfranzösisch schmeckenden Fatalitas und Begebenheit eine alleruntertänigste Anzeige zu machen, hielt ich für meine Pflicht und untertänigste Schuldigkeit und ersterbe und verharre in tiefster Submission

Euer etc. treu gehorsamst verpflichteter, in Kreuz- und Rückenschmerzen sich befindender wie auch weh- und demütiger X zu H., am 1. April 1800.«

Auch an politischen Gedichten fehlte es nicht. Es war dazumal die Zeit allgemeiner Bedrückung und Erniedrigung, die hier keiner weitern Erwähnung bedarf.

Die Lage, in der ich mich in dieser Fabrik befand, hatte so wenig Reiz für mich, daß ich dachte, ein auf der Veste Asperg wegen Politik gefangen Sitzender sei mir gegenüber ein beneidenswerter Mensch. Da, dachte ich, könnte ich doch ungestört, und ohne dabei nähen zu müssen, in ein Stübchen eingesperrt, und wenn auch an eine Kette gelegt, lesen und dichten, und Lieberes wußte ich nicht. So konnte es nicht fehlen, daß ich auch ohne Furcht und in freudiger Erwartung, ich werde dadurch mit jener mir so schön gedachten Lage auf der Veste Asperg belohnt werden, sehr verpönte politische Gedichte machte, jugendliches Strohfeuer, das zum Glück für mich nicht zündete. Sie hatten keinen poetischen Wert und wurden alle von mir selbst zerstört. Sie waren, ich muß es sagen, ganz erbärmlich. Einige Gedichte aber, weder satirischen noch politischen Inhalts, die ich noch aus jener Zeit vorfand, teile ich hier mit. Man wird in ihnen noch Anklänge an Klopstocks, Höltys, Göthes Gedichte finden, mit denen ich mich während meiner Näharbeit oft heimlich beschäftigte, Anklänge, die aber verschwanden, als der mir eigentümliche Ton später in mir erwachte und jene Klänge auch durch das deutsche Volkslied, das ich erst später kennenlernte, in mir verdrängt wurden.