Justinus Kerner

Das Bilderbuch aus meiner Knabenzeit
Gedichte aus dem Knabenalter


Auf den Tod eines Kindes

Was ihr habt gewieget und geküsset,
Glaubet, war kein Kind, es war ein Engel!
Aber Engel sind nicht dieser Erde –
Sind dem Himmel.
Ach! nur auf zwei kleine Augenblicke
Steigen sie zur Erde still hernieder
In des Menschen Wohnung, sie zu machen
Gleich dem Himmel.

Blickt dem Engel nach mit stillen Sehnen,
In der Heimat ist er angekommen,
Die mit Tränen einstens euch zuliebe
Er verlassen.

Der Magnet

Sieh wie das Eisen,
Fest angezogen
Von dem Magnet, der
Über ihm schwebet,
Emporstrebt!
Es zieht sich,
Es dehnt sich,
Verschweben möchte
Mit ihm es
In Eins.
So schwebt auch über
Allen den Welten
Ein Magnet, der
Heißet: die Liebe.
Und es hebt sich
Voll Sehnsucht
Meine Seele
Aus ihrer Hülle,
Möchte sie reißen,
Verschweben möchte
Mit ihr sie
In Eins.

In der Krankheit

Sinke, schwacher Wanderstab!
Welke, welke, Leib! Ich will dich nimmer!
Sterne! streuet euren bleichen Schimmer
Auf des Frühverstorbenen Grab.
Mutter! was! ein Trauerflor?
Kränz mit Rosen deine grauen Haare,
Die da sterben in dem Lenz der Jahre,
Schweben ja am reinesten empor.

Gottes Odem

Was mir so freundlich
Schwebt um den Busen!
Ist es des Westes
Stilles Gesäusel?
Sind es der Sonne
Scheidende Strahlen?
Oder was ist es?
Gottes, nur Gottes
Heiliger Odem
Ist es, er ist es,
Der so mit Liebe
Küßt seine Kinder.

Heiliger Odem!


Mir auch zum Busen!
Heiliger Odem!
Küssest ja dort auch
Liebend das Würmlein,
Daß es sich wonnig
Wälzt in dem Staube.

Drum weh, o heiliger,
Mir auch zum Busen,
Bringe dem heißen
Herzen des Jünglings
Kühlung und Frieden!

Auf den Tod einer Nonne

Ha! verschwunden ist die Blume,
Die, mit Purpur übermalt,
Einsam in dem Heiligtume
Jenes stillen Bergs gestrahlt.
Über dunklen Felsengründen
Blühte sie dem Himmel nah,
Wo, zum Strauße sie zu binden,
Niemals sie ein Jüngling sah.

Doch in ihrem stillen Glanze
Hat ein Engel sie erblickt
Und sie lächelnd zu dem Kranze
Seines Gottes abgepflückt.

Die Lerche

Ringsum malet die Sonne
Rot und golden den Himmel,
Weste lispeln und spielen
Mit dem Kranze der Schnitterin.
In dem Golde des Morgens
Wiegt sich wonnig die Lerche,
Blaue Wölkchen umschweben
Und verhüllen die Sängerin.

Lüfte! singt sie, o tragt mich,
An den Busen des Vaters!
Strahlen! ihr kommt von oben,
Sagt! wo weilet der Liebende?

Sagt's! auf daß ich ihn liebend
Mit den Flügeln umfange!
Aufwärts! Wolken! ihr Lüfte!
Aufwärts! auf zu dem Liebenden!

Die Zwillingssterne

Blicket in des Äthers blaue Fernen,
Seht, aus tausend Myriaden Sternen
Lächeln einzig zwei, die sich zusammen
Ewig voller Lieb und Lust umflammen.
Als die Teufel in verruchten Stunden
Ihren Heiland an das Kreuz gebunden
Und er menschlich ausrief im Erblassen:
Vater! Vater! hast du mich verlassen?
Blicket Vater von dem Glanz des Thrones,
Sieht die Wunden des geliebten Sohnes,
Wie er stirbt den Tod, den schmerzensvollen,
Tränen da dem Gottesaug' entrollen,
Und es blitzen zwei in üpp'ger Fülle
Durch die Himmel, halten mitten stille
Und verwandeln sich zu lichten Sonnen,
Christen leben drauf in ew'gen Wonnen.

Des Gärtners Lied

Der Schäfer singt dort unten
So manches teure Lied,
Und froher seine Herde
Auf grüner Wiese zieht.
Wohlauf! und angestimmt
Ein Liedchen, auszuruhen,
Ich sing, ein treuer Hirte
Auch meiner Herde, nun:
Auf! Blumen, auf und blicket
Zur Sonne himmelwärts,
Sie kommt, um euch noch einmal
Zu drücken an das Herz.
O schaut sie an, erhebet
Das Haupt an Düften reich,
Es träumt die gute Mutter
Wohl alle Nacht von euch.
Schon sinkt sie dort mit Lächeln
Wohl an des Vaters Brust,
Doch fürchtet nicht, der Hirte
Wacht noch um euch mit Lust,
Und eure Schwestern nahen,
Die Sterne allzumal,
Sie blicken freundlich nieder
Und grüßen euch im Tal.
Ja Sterne! goldne Sterne!
Weilt nur auf eurer Bahn!
Blickt liebend eure Schwestern,
Die frommen Blumen an.
O seht! sie streben sehnend
Hin zu der Lüfte Reich,
O neigt euch freundlich nieder,
Sie möchten auf zu euch.
Weh! Blumen! weh, die Erde
Hält euch mit fester Hand,
Und weh, euch Sterne bindet
Ein unzertrennlich Band.
Doch blüht nur, meine Blumen,
Euch senden aus der Luft
Die Sterne Tau und Tränen,
O sendet süßen Duft!