Justinus Kerner
Das Bilderbuch aus meiner Knabenzeit
Der Chemiker Staudenmayer und seine Freunde
Ein eigener, origineller Mann damaliger Zeit in Ludwigsburg war der Chemiker Staudenmayer. Ich glaube, er war zu Marbach geboren; er zog schon nach Ludwigsburg, als mein Vater noch Beamter daselbst war. Viele Jahre hatte er als Chemiker und nachher als Admiralitätsapotheker in Petersburg gelebt. Sein Haus befand sich nicht weit von der Tuchfabrik in der hinteren Schloßstraße. Er war mit Seele und Leib Chemiker und trug eine chemische Ehrennarbe im Gesicht; er hatte nämlich in Petersburg, als er eine neue Metall-Komposition zu Lettern goß, ein Auge verloren. Er war ein hagerer Mann von mittlerer Größe, seine Haare waren, obgleich er damals vielleicht erst 50 Jahre zählte, schneeweiß, lang gelockt, und sein Gesicht trug tiefe Furchen einer in Denken und Arbeiten durchlebten Zeit. Er hatte sich Vermögen gesammelt und hielt es durch Sparsamkeit und kleine chemische Arbeiten (denn von solchen konnte er nie ruhen) zusammen. Er war kinderlos. Seine Frau war eine Livländerin. Sie war klein bei einem langen Oberleib, und ich sagte oft zu ihr, ich bezüchtige sie, keine Füße zu haben. Sie liebte ihren Mann ungemein so wie er sie. Dieser Mann hatte, besonders in der technischen Chemie, manche interessante Entdeckungen gemacht, zeigte sie auch solchen, die ihn näher kennenlernten, gern vor, aber aus der Art ihrer Bereitung machte er immer das größte Geheimnis. Es war dazumal die Zeit der Surrogate, für seinen forschenden Geist eine willkommene. Für alle Kolonialwaren hatte er Surrogate erschaffen, den Freunden zeigte er sie vor und wartete ihnen damit auf. Man speiste bei ihm vortrefflichen Zucker, der aber nicht aus dem Zuckerrohr genommen war, man trank bei ihm ausgezeichneten Kaffee, allein es war nicht die gewöhnliche Kaffeebohne; Zimt und Nelken vom besten Arom teilte er aus, allein sie waren sein Fabrikat; auch ein Surrogat für die Chinarinde hatte er erfunden, das in den Spitälern, besonders in Hamburg, mit dem besten Erfolge angewendet wurde. Man bot ihm damals reichliches Geld, die Fabrikation dieses Chinasurrogats zu eröffnen, allein er war durchaus nicht dazu zu bringen, lieber schickte er es unentgeltlich aus. Die verschiedensten Sauerwasser und moussierenden Weine, die er schnell ex tempore zu bereiten wußte, standen bei ihm immer für Freunde bereit. Drang man in ihn, er möchte doch sagen, wie er dies oder jenes mache, so fing sein Mund an, sich zu einem schalkhaften Lächeln zu verziehen, und sein einziges blaues Auge schielte und funkelte hell – aber er schwieg.
In Bereitung von verschiedenen feinen Essigen war er besonders Meister, auch im Einmachen der verschiedensten Früchte in solchen kristallhellen Essigen in Gläsern, so daß sie ihre natürliche Farbe und Gestalt behielten, was jetzt häufig gesehen wird, damals aber noch ein Geheimnis war. Die königliche Tafel bezog sie damals nur von ihm, ob er gleich mit dem Hofe immer im Streite lebte. Mein Vater nahm sich Staudenmayers bei Aufnahme in Ludwigsburg dessen sehr an; schon deswegen war er immer freundlich und lud mich in Freistunden manchmal zu sich ein, wo er mich mit seinen Surrogaten traktierte und mir von seinem Leben in Rußland, von den Präparaten, die er gemacht, von den Chemikern und Ärzten, mit denen er da umgegangen, vieles erzählte. Je näher er mich kennenlernte, je klarer wurde auch ihm, daß ich für das Gewerbe eines Kaufmanns nicht tauge und daß ich bei meiner Vorliebe für die Natur und ihre Wissenschaften mich zu ihrem Studium auf eine Universität begeben sollte. Das hörte ich gern, aber mit Zittern und Zagen, weil ich keine Aussicht dazu vor mir sah.