Justinus Kerner

Das Bilderbuch aus meiner Knabenzeit
Mein Gang auf die Universität


Meine schon längst gehegte Sehnsucht, mich ganz dem Studium der Natur ergeben zu können, wurde nun auf den Inhalt der Briefe meines Bruders Georg aus Schweden und aus Hamburg immer mehr angeflammt, obgleich er in seinen Briefen nie etwas davon erwähnte, daß ich meine jetzige Lage verlassen solle; aber ich sah, wie er nach so großen Stürmen des Lebens den Anker noch einmal nach der Naturwissenschaft als seiner letzten Hoffnung auswarf, und in solcher hoffte auch ich immer mehr ein neues, frisches Leben zu gewinnen, da mir das Leben in meinem jetzigen Gefängnisse schon halb welk geworden.

Der immerwährende Gedanke an meine gepreßte Lage, und wie ich sie ändern sollte, verfolgte mich stündlich und ließ mich auch durch manche Nächte schlaflos liegen, da machte ich in einer Nacht den Reim:

»Wollen dich Gedanken kränken,
Zwinge dich an nichts zu denken.«

Diesen Reim sagte ich dann in jener Nacht und in andern Nächten, die schlaflos zu werden drohten, mehr als hundertmal schnell hintereinanderher, bis ich wirklich auch an nichts mehr dachte und dann einschlief.

Dieses Mittel gegen schlaflose Nächte wegen kränkender Gedanken gebrauchte ich von da an bis in mein spätestes Alter sehr oft und fand es immer probat.

Noch war ich nicht entschlossen, ob ich das Studium der Medizin oder ein anderes, den Naturwissenschaften auch naheliegendes Fach ergreifen sollte. Wie herzlich wünschte ich, es möchte noch eine Carls-Akademie bestehen, die Unbemittelten eine so freigebige Aufnahme gewährt und in der meine älteren Brüder ihren Unterricht zur Erleichterung der Eltern erhalten hatten. Sie existierte nicht mehr, und einer Unterstützung durch ein Stipendium hatte ich mich, wie so viele, nicht zu erfreuen. »Olim musis, nunc mulis«, seufzte ich oft vor mich hin.

In einem Schreiben stellte ich meinem Oheime, dem Kriegsvogte meiner Mutter, dem Landschaftskonsulenten Kerner, meine jetzigen Verhältnisse und meine Wünsche für ein anderes Leben vor, aber dem strengen, eifrigen Geschäftsmanne erschien ich durch dieses Schreiben nur als ein Phantast, auch stellte er mir den Geldpunkt vor und wies mich zur Ruhe.

Ich schrieb nun an meinen väterlichen Freund Conz in Tübingen, der mir schon früher zum Studium irgendeiner Wissenschaft zugesprochen und mich vor der Gefahr, Konditor werden zu müssen, gerettet hatte, und setzte ihm mein trübes Leben und meinen Widerwillen gegen meinen jetzigen Stand auseinander. Und nicht umsonst; er drang in mich, zum Studium der Naturwissenschaften nach Tübingen mich zu begeben, zugleich belehrte er meine Mutter und meinen Bruder Carl, daß die Kosten eines Studiums in Tübingen, wisse ein junger Mensch zu sparen, nicht so groß seien, auch wolle er für Kost und Logis um eine billige Entschädigung unter seinem eigenen Dache sorgen. Daß meine Vorkenntnisse zur Beziehung der Universität genügen, wisse er.

Sowohl Direktor als Kommis der Tuchfabrik sahen mich gern aus ihrem Geschäft gehen, für das ich nun einmal nicht taugte. Je eifriger ich auch nach dem Lesen wissenschaftlicher Schriften und Poesien strebte und mich in solche vertiefte, je schwerer fiel mir das Verfertigen von Tuchsäcken und Musterkarten und das Ausklopfen von Indigofässern; auch erschien ich meiner Umgebung nach und nach als eine mysteriöse Person, hinter der sie viel mehr Gelehrsamkeit vermuteten, als wirklich der Fall war; sie bekamen eine Art Respekt vor mir und verrichteten öfters jene Geschäfte lieber selbst, als daß sie mich dazu kommandierten, wenn ich solche nicht freiwillig tat.

Am schwersten fiel meinem Naturfreunde Kübler mein Scheiden aus den Mauern dieser Anstalten, deren Bewohner, Fabrikarbeiter, Waisenkinder, Irren und Züchtlinge, wir so oft im Kleinen durch unsere Camera obscura uns aufs Papier zauberten und in bunter Bewegung an uns vorübergehen ließen.

Zur Erinnerung an jene Stunden schenkte er mir noch das Objektivglas der Camera obscura, die wir geschaffen hatten und das ihm gehörte. Vermittelst dessen errichtete ich überall, wo mich später das Leben hinführte, eine gleiche Camera obscura, wobei mir immer, wie ich schon anführte, das Bestreben im Sinne lag, die Gegenstände durch chemische Mittel zu einer Fixierung aufs Papier zu bringen.

Meine Freunde, Hellmann, Constantin und Staudenmayer, waren über meinen endlichen Austritt aus der Fabrik herzlich erfreut, der überspannte Hausschneider Noä aber war voll Neid, daß mir das gelungen. Er gab mir beim Abschiede zu verstehen, daß er mir wohl bald nach Tübingen zum Studium der Rechtschaffenheitslehre (wie er sich ausdrückte), auf die ihn die Schriften von Sintenis geführt, nachfolgen werde, er warte nur auf den Tod seiner kränklichen Frau; aber seine Frau überlebte ihn, und ihn nahm statt der Universität Tübingen das Irrenhaus zu Zwiefalten, wie ich schon berührte, auf.

Bald aber gab mir in Tübingen mein Mantel, in den der Ofen, während meines Studierens, ein Loch brannte, Veranlassung, noch einmal mit ihm in Berührung zu kommen; ich schrieb ihm damals mit dem verbrannten Mantel nach Ludwigsburg:

»Prosit, 's neu' Jahr!
In welche Gefahr
Ich gekommen schier,
Vernehmen Sie hier:
Ganz ruhig ich saß
Am Ofen und las
In einem Buch,
Wie Gottes Fluch
Und alle Übel
Ohne Bibel
Durch Laxieren und Speien
Zu heilen seien,
Als plötzlich – oh!
Ganz lichterloh
Aus dem Ofenloch
Der Teufel kroch,
Mir mit feurigen Klauen
Den Mantel zu rauhen.
Ich nicht dumm,
Dreh mich um,
Schüttel und rüttel
Den brennenden Kittel,
Aber ein Loch
Bleibt doch,
Wie Sie sehen,
Wenn Sie ihn drehen.
Nun bitt ich sehr,
Mein lieber Herr!
Verlassen Sie nicht
Den armen Wicht
Und setzen Sie doch
Einen Plätz fürs Loch,
Aber bald,
Denn es ist kalt.
Vielleicht hat Sprösser
Oder, besser,
Die Fabrik
Noch ein Stück
Der Art feil.
Ihr Kerner (in Eil'!)«

Diese Knittelverse leben noch jetzt im Munde mancher Ludwigsburger.

Es war der Herbst des Jahres 1804, wo ich mich von Ludwigsburg und seinen Tuchsäcken und Tuchballen verabschiedete und unter Tränen meiner guten Mutter, die mich ungern aus ihrer Nähe verlor, der Universitätsstadt Tübingen zuwanderte.

Mit Büchern und Zeug war mein Ränzlein schwer bepackt. Um jetzt schon das Sparen anzufangen und einzulernen, hatte ich unterwegs nirgends eingekehrt und mich nur an ein paar Brunnen mit einem frischen Trunke zum Weitergehen gelabt. So kam ich im Mondschein, allerdings endlich sehr ermüdet vor Tübingen an, in der Gegend, wo an der Chaussee vor dem sogenannten Gutleuthause (einem Armenspital) eine Bank stand. Auf diese ließ ich mich ermattet nieder und schlief unter dem Gesäusel der nahen Pappeln ein.

In diesem Schlummer hatte ich zum ersten Mal den Traum, der mich nachher während meines Studiums auf der Universität noch sehr oft verfolgte.

Es träumte mir, ich sitze zwischen einem Berge von Kompendien und Manuskripten in einem einsamen Stübchen, dessen einziges Fensterlein gegen eine Waldwiese sah.

Ermüdet von vielem Lesen, heftete ich endlich meine Augen von den Büchern nach dem Grünen der Waldwiese, und da sah ich, daß aus dem Walde über die Wiese her ein Hirsch mit Storchfüßen schritt, der kam wie durch die Luft meinem Fensterlein immer näher, und endlich stand er zu meinem Schrecken vor mir im Stübchen und befahl mir in den unverschämtesten, höhnendsten Ausdrücken, weil ich ein so emsiger Studiosus sei, ihn, der bisher vergessen worden, nach Linée in eine Klasse zu stellen.

Den beängstigenden Presser an der Seite, durchblätterte ich all meine Kompendien und Manuskripte; aber ich konnte von diesem Ungetüme nichts geschrieben finden, ihm keinen Namen anweisen, und ich erwachte im Schweiße meines Angesichtes. Dieser damalige Traum, ein wahrhaft magnetischer, vorausgehender, welcher keine Dichtung, sondern völlige Wahrheit ist (den ich aber in einer Dichtung »Die Heimatlosen« benutzte), wiederholte sich mir sehr oft in nächtlichen Träumen während meines Studiums in Tübingen; der Hirsch gab mir ganz das Gefühl eines Examinators, wobei er das Gesicht bald eines Professors, bald eines fleißigen Studiosi annahm. Es war mir dieser Traum immer sehr widrig, aber bezeichnend für das ängstliche Studium der Meinungen und Systeme, in das ich nun eingeführt wurde und das mir so oft ganz außer dem Bereiche der Natur zu liegen schien.

Als ich aus jenem Traume erwachte, wogten die Pappeln am Wege im heftigen Sturme hin und her, und Wolken flogen am Monde vorüber. Als ich mich erhob, wehte der Luftzug mir ein beschriebenes Papier entgegen; ich haschte es mit der Hand, es war ein ärztliches Rezept, das der Wind aus einem offen stehenden Fenster des Armenspitals getrieben hatte. (Auch dieses geschah mir damals in Wahrheit.) Die Rezeptur hatte die Unterschrift des damaligen Oberamtsarztes Dr. Uhland in Tübingen, eines braven Praktikers und Menschen (Oheim des Dichters). Wohl hatte ich mich beim Verlassen der Fabrik fürs Studium der Naturwissenschaften entschlossen, aber noch nicht für das besondere der Medizin. »Nun ja«, sagte ich vor mich hin, »dieses Blatt ist dir zum Zeichen deines künftigen Berufes gesandt; du sollst ein Arzt werden!« In diesen Gedanken und mit diesem Vorsatze zog ich durch das Lustnauer Tor in die mir ganz unbekannte Stadt der Musen ein.

Ende des Bilderbuchs aus meiner Knabenzeit