Justinus Kerner
Das Bilderbuch aus meiner Knabenzeit
Von meinen Geschwistern um jene Zeit. Meine Schwester Wilhelmine
Während meines Aufenthaltes in dieser Fabrik verlor ich auch die Nähe meiner lieben Schwester Wilhelmine, die durch eine Verheiratung von Ludwigsburg hinweg wieder in die Gegend von Maulbronn kam. Schon im Kloster Maulbronn besuchte ein benachbarter Geistlicher, Pfarrer Steinbeis zu Oelbronn, öfters mein väterliches Haus. Es war ein Mann voll Geist und Humor. Durch sein Äußeres konnte er für ein gewöhnliches Mädchen nicht erobernd sein; denn schon im mittlern Alter hatte er ein Silberhaar, das nur in einem Kranze den kahlen, glänzenden Schädel umgab, den er oft in seinem Humore dem Helme Mambrins verglich. Dabei waren seine Gesichtszüge sehr lang, aber sein hellblaues Auge war voll Geist, und was er nur sprach, mußte man gerne hören.
Im Jahre 1762 zu Vaihingen an der Enz von bürgerlichen Eltern geboren, durchlief er auf Zureden der dasigen Geistlichen die gewöhnliche Bahn württembergischer Theologen, trat aber, nachdem er Tübingen verlassen hatte, besonders längere Zeit als Erzieher in die Familie des Baron du Bos du Thil zu Braunfels ein.
Von diesem Herrn du Thil pflegte er öfters zu sagen:
»Er war ein Mann, der, wenn ich je an menschlicher Tugend hätte verzweifeln können, mich davor durch seine Tugend geschützt hätte.« Zwei Söhne waren ihm zur Erziehung übergeben, von denen der eine der noch jetzt lebende, gewesene darmstädtische Staatsminister du Thil ist. Mit ihnen war ihm öfters die Veranlassung zu Reisen in Deutschland, der Schweiz und Savoyen gegeben, und er verweilte auch mit seinen Zöglingen zwei Jahre zu Neufchâtel und vier Jahre zu Stuttgart. Von der Schweiz und von Stuttgart aus führte er einen fortgesetzten Briefwechsel mit der Tante seiner Zöglinge, einer Fräulein von Asseburg, in deutscher und französischer Sprache. Diese seine Briefe sind voll lebendiger Schilderungen von Naturszenen und Erlebnissen.
Als dieser Mann schon damals den Wunsch äußerte, meine Schwester Wilhelmine zur Gattin erhalten zu können, schien ihr Herz noch von einer andern Neigung erfüllt zu sein; aber die späteren Verhältnisse traten dazwischen. Als er sie nun nach Jahren in Ludwigsburg zur Gattin begehrte, ging sie mit ihm den Bund ehelicher Liebe ein, was sie auch nie zu bereuen hatte. Lauterkeit und ein Herz ohne Möglichkeit einer Falte war der Grund und Boden dieses ihres Gatten, auf dem ein heiterer Humor und ein ungebeugter Lebensmut blühten, die ihn für jedermann liebenswürdig machten. Humanität war der Grundsatz seines Handelns, auch als Lehrer seiner Gemeinden, und die Regel, die er jenen gab, war: »Wenn dich neunundneunzig betrügen, so erwarte von dem hundertsten wieder Gutes.« –
Er starb mit einem beredten Zeugnis an den ihn umgebenden Kreis der Seinigen, daß die menschliche Wissenschaft das Höchste und Ewige nicht erreichen könne, wenn ihr nicht das Licht von oben hilfreich dazu erscheine.
Vier Mädchen und zwei Söhne gingen aus dieser Ehe hervor, braver Eltern würdige Kinder, von denen der älteste Sohn sich als Hüttenmann und Mechaniker auszeichnet.
Meine gute Mutter hatte sich am Ende ihres Lebens zu diesem Tochtermanne, und zwar an seinen letzten Aufenthalt, Ilsfeld bei Heilbronn, begeben, wo sie mit ihm längst auf einem Kirchhofe ruht. Aber der Tod beider fiel nicht in meine Knabenzeit, sondern in eine viel spätere.
Die Entfernung von meiner Schwester Wilhelmine war mir auch deswegen betrübend, weil ich ihr unter meinen Verwandten allein meine poetischen Versuche mitteilen konnte, da sie mich hierin allein verstand. Sie versuchte sich selbst hie und da in gebundener Rede (selbst noch im spätesten Alter), und da ich soeben von dem Tode ihres Gatten sprach, will ich die Verse hersetzen, die ihr nach seinem Tode ihr religiöses Gefühl und ihr Schmerz über ihn eingab.
»Der Abend kam, ich sank ermattet nieder,
Bald schlossen sich die müden Augenlider,
Ich sah im Traum versetzt mich in den Garten,
Sah meiner jungen Pflanzen dort mich warten,
Da fand ich (ach! warum denn nur in Träumen?)
Den Lieben unter seinen jungen Bäumen.
›Sieh‹, sprach er, ›Sieh! wie herrlich diese Früchte!
Noch nie genoß ich bessere Gerichte!
Schien's, daß ich lang umsonst gepflegt den Garten,
Wie herrlich lohnt nun mein geduldig Warten.‹
Und alle Bäume, die er selbst gezogen,
Von edlen Früchten waren sie gebogen,
Und niemals noch sah ich von solchen Gaben
Den Lieben so wie diesesmal sich laben.
›Gern führt ich dich nun auch zu meinen Reben,
Die immer jetzt den besten Saft mir geben,
Verwandelt sind auch sie, sind gleich der Quelle,
Die hier fließt, unerschöpflich wunderhelle.
Doch sieh! ich kann hier nicht zu lange weilen,
Ich muß der schönen Pflanze dort zueilen,
Die frühe mir, so war mein Wahn – erstorben;
Doch sieh! aufs neue hab ich sie erworben.‹
Und als ich aufsah, sah, von Glanz umgeben,
Ein Wesen höhrer Art ich fernher schweben.
Die Arme hob ich auf, es zu empfangen,
Da ward ich wach, und weh! mein Traum vergangen.
Die Sonne stand schon hell am heitern Himmel,
Ich sah hinaus ins menschliche Gewimmel.
Wie ward mir fremd dies Rennen und dies Treiben.
›Oh!‹ klagt ich leis, ›könnt' ich doch immer bleiben,
Geliebter! stets bei dir in solchen Träumen!
Bei jener Pflanze, Herz! bei deinen Bäumen!
Nun kann ich fürder nimmer mit dir gehen;
Warum ist Täuschung, was ich hab gesehen?‹ –
Der schöne Traum (hat er mir gleich gelogen),
Käm' er nur wieder, wenn der Tag verflogen!
Doch glücklich in Erinnrung jener Bilder,
Den Schmerz bald heftig fühlend und bald milder,
Ging wehmutsvoll auch dieser Tag vorüber;
Dann schlummert' ich in andre Träum' hinüber,
Die führten mich an unbekannte Orte,
Die ich zu schildern finde keine Worte.
Doch all die Schönheit jener höheren Räume,
Sie stillte nicht den Wunsch, daß jene Träume
Sich mir erneuen möchten, daß in Wahrheit
Ich wieder schaute ihrer Bilder Klarheit.
Und als ich sinnend weiter ging und weinte,
Sieh da! mein treuer Schutzgeist sich mir einte.
›Ich komme‹, sprach er, ›deinen Traum zu deuten,
Laß allen Kummer, tu die Zweifel meiden.
Was ist's, daß deine Träume dich betrübten,
Sie sind ja schon erfüllt für den Geliebten?
Doch darfst du nimmermehr sie irdisch deuten,
Er ist befreit von ird'schem Tun und Leiden.
Der Weinberg seines Herrn, das ist der Garten,
Den er gepflegt, mit Lieb' und Treu' zu warten.
Die Früchte, die du sahst und die er pflückte,
Sind Früchte seines Tuns, das dort ihn schmückte.
Der Quell, aus dem er trinkt, ist ew'ge Wahrheit.
Sein irdisches Wissen ist nun Schau'n und Klarheit.‹
›Doch jene Pflanze, die er wähnt erstorben?‹ –
›Sagt's Mutterherz dir nicht, was er erworben?
Kannst du dies Bild nicht deuten, jenes Wesen,
Der Liebe erste Frucht, krank dort und hier genesen?‹ –
›O Dank für deine Deutung! Stärk mein Hoffen!
Mein Glauben, Lieben, laß den Himmel offen
Auch mir und führe mich nach Leiden, Weinen
Hinauf zu jener Seligkeit der Meinen!‹«