Justinus Kerner
Das Bilderbuch aus meiner Knabenzeit
Mein Bruder Georg in Schweden
Mit Betrübnis sah mein Bruder Georg um jene Zeit all seine Hoffnungen für Freiheit der Völker schwinden. Bonapartes Plane zu einer Alleinherrschaft nicht bloß in Frankreich, sondern zu einer Weltherrschaft lagen ihm immer klarer vor Augen. Er hatte in Frankreich mit aufrichtigem Herzen der Sache der Freiheit gedient; der der Tyrannei zu dienen, wenn auch mit persönlichem Vorteil, der ihm auch reichlich angeboten wurde, dazu hatte er kein Gemüt. Wie die Franzosen ihre Freiheit aufgaben, die Republik sich in die absolute Herrschaft verwandelte, gab er mit betrübtem Herzen das sich selbst aufgebende Volk auf. Noch ehe er aber Paris und die französischen Dienste verließ, eröffnete er dem ihm wohlbekannten damaligen Minister Talleyrand, der im Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten seinen Freund Reinhard, welcher nur kurze Zeit verwalten durfte, verdrängt hatte, seine antibonapartischen Gesinnungen frei, wobei er es nicht an Vorwürfen, die allen Helfershelfern zur Unterdrückung der Freiheit galten, fehlen ließ, so daß er genötigt war, Paris schleunigst zu verlassen.
Er hatte seinen Wanderstab nach der freien Stadt Hamburg gesetzt, die er aus früherem Aufenthalt liebgewonnen und wo sich nun sein Freund Reinhard zum zweiten Male als der Gesandte Frankreichs bei dem niedersächsischen Kreise befand.
Dort angekommen, gründete er bald ein politisches Journal mit dem Titel »Der Nordstern«. Dieses Journal war hauptsächlich gegen die despotischen Bestrebungen Bonapartes und seines Anhanges gerichtet, dem der Verfasser zu lang, zu tief in die Karten geschaut hatte, um nicht der verwundbaren Punkte genug treffen zu können. Bonapartes Arm erstreckte sich aber auch schon damals über die nachher durch die französische Tyrannei so unglücklich gewordenen Hansestädte; der französische Gesandte, obgleich sein innigster Freund, mußte die Unterdrückung des »Nordsternes« vom Senate fordern, und selbst die persönliche Sicherheit des Verfassers in Hamburg wurde gefährdet. So verließ er nun Hamburg und die Politik und begab sich, Ruhe dem verwundeten Gemüte zu verschaffen, nach Kopenhagen und von da, über den Sund schiffend, in die großartige Natur Schwedens. Seine Ansichten über Schweden legte er in einer Schrift nieder, die im Jahre 1803 in der Cottaischen Buchhandlung erschien und den Titel führte: »Reise über den Sund«. Dieses Buch enthält manches Merkwürdige über Schwedens damalige Staatsökonomie und seine politischen Zustände in der Vergangenheit und Gegenwart. Schwedens schöne Natur, sein üppiger Ackerbau, seine starken und freien Männer gewannen sein Herz, aber sein verwundetes Gemüt, der Gram über seine fehlgeschlagenen Hoffnungen, sein zunichte gemachter Glaube an ein freies Volk blicken durch all das, was ihn dort erfreute, schmerzlich hindurch. Das nachstehende Schreiben von ihm aus Lund gibt von all diesem Zeugnis.